KOLUMNE

Am Riemen reißen

von Redaktion

Viele meiner Bekannten und Freunde sagen dasselbe: „Ich kann die Nachrichten kaum mehr ertragen. Spätabends schaue ich nicht mehr, sonst kriege ich die Bilder von Krieg und Leid nicht mehr aus dem Kopf und wälze mich nur noch schlaflos im Bett.“ Alles gescheite, engagierte Leute – aber auch die müssen auf ihre seelische Gesundheit schauen. Die Politik mancherorten lässt einen überdies schier irre werden am Glauben an die Menschheit – sollte man ihn nicht längst verloren haben.

Mir geht es ähnlich. Lieber als Fernsehen schaue ich in die Zeitung, weil ich die zur Seite schieben kann. Das geschriebene Wort bedrängt nicht so. Kopfkino allein reicht schon. Ich selber erhole mich durch den Blick auf unseren Balkon, wo Eichhörnchen um die Wette turnen, Wasser trinken und futtern, was das Zeug hält, Kohlmeisen wilde Jagden veranstalten und der Buntspecht schüchtern Nüsse abholt. Das Private, die kleine Geselligkeit rückt mehr und mehr in den Vordergrund.

Dann fallen mir die Ermahnungen meiner Jugendzeit ein. „Reiß dich mal am Riemen“, sagten meine Eltern. Dieser Appell kommt aus dem Militärischen. Der Riemen ist der Gürtel an der Uniform und die Schnalle an diesem Gürtel musste mittig sitzen. Tat sie das nicht, sollte sich der Soldat am „Riemen reißen“ – also die Sache in Ordnung bringen. Manchmal sage ich mir das: „Zsammreissn“, wenn ich in meinem Heimatidiom denke. Oder: Los, anstrengen, nicht herumjammern.

Es würde in unsere militante Zeit durchaus passen, solchermaßen diszipliniert zu sein. Denn schließlich geht es nicht, sich allein im Privaten zu verbuddeln und in biedermeierliche Gemütlichkeit zu versinken – oder in deprimierte Dauerresignation. Es braucht schon männliche und weibliche Zeitgenossen, die wachsam das Geschehen in der Welt, in unserem Land und in dieser Gesellschaft verfolgen. Und die sich verbinden gegen alles Unmenschliche.

Also zsammreissn, miteinander aufstehen gegen wildgewordene Potentaten, miteinander den Niedergang der Demokratie verhindern und gemeinsam protestieren, wenn Menschen Leid zugefügt wird durch Krieg, Gewalt, Verfolgung und Folter? Durch Armut und Not, durch fehlende oder einfach gestrichene wirtschaftliche Unterstützung und humane Begleitung? Ja, freilich. Aber es gibt eine bessere Devise als die, aus der Kuschelecke herauszukriechen und strammzustehen.

Zu meiner feierlichen Einsetzung in das Amt als Pfarrerin hat einer meiner Assistenten mir einen Segensspruch aus dem Neuen Testament mitgegeben: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“. Nicht bibbern, vor wem auch immer. Sondern sich allein und gemeinsam besinnen, was mit aller Energie zu tun ist – aus Liebe zu sich selbst und den Mitmenschen. Die Freude daran stärkt mein privates Paradies.

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