Zeichen der Trauer am Tatort.
Der Moment der Festnahme nach dem Anschlag.
Der Attentäter von München, Farhad Noori, posiert im Internet.
München – Als vergangenen Donnerstag die ersten Handyvideos der Amokfahrt in München kursieren, ist Karim A. gerade bei der Arbeit. Er schaut sich die Aufnahmen auf TikTok an, muss in einen Nebenraum gehen und eine Pause machen. Er zittert am ganzen Körper.
Denn Karim, der eigentlich anders heißt, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, sieht darauf nicht nur einen um sich schreienden Mann, der gerade in eine Menschenmenge raste und aus einem creme-weißen Mini gezogen wird. Er sieht einen langjährigen Freund.
Die Tat des Farhad Noori beschäftigt daraufhin ganz Deutschland. Wie konnte er ungebremst in den Verdi-Demonstrationszug fahren? Wieso wird ein Fitness-Influencer zum Attentäter? Und wie schnell können sich Menschen radikalisieren? Die Freundschaft zwischen Karim A. und Farhad liefert darauf zumindest teilweise Antworten.
Denn das Leben des Attentäters Farhad Noori ist erst einmal unauffällig. Karim und Farhad lernen sich in einer Einrichtung für Geflüchtete in Giesing kennen, dort wohnen sie mehrere Jahre zusammen. Dass Karim kein Muslim ist, ist Farhad egal. Sie werden Freunde, gehen zusammen ins Fitnessstudio. Mit 17 sei Farhad ein schüchterner, dünner Junge gewesen. „Der hat sich krass gefreut, dass ich mit ihm trainieren gegangen bin“, erzählt Karim. Sieben Jahre später sei Farhad durchtrainiert und selbstbewusst gewesen. „Er war immer diszipliniert, hat nie ein Training ausgelassen“, sagt Karim über die Zeit. „Beim Pumpen ist er auf TikTok live gegangen, hat andere motiviert: Geht raus, macht Sport. Macht was aus eurem Leben!“, habe Farhad seinen 50 000 Followern zugerufen.
Warum Farhad Noori sein eigenes Leben weggeschmissen hat, warum er das Leben eines zweijährigen Kindes und seiner Mutter beendet hat und blind vor Hass mindestens 39 weitere Menschen verletzt hat, darauf findet Karim weiter keine Antworten. „Habibi, es macht einfach keinen Sinn.“ Farhad hilft Karim beim Umzug, hat viele Freunde und regelmäßige Dates. Er geht feiern und trinkt auch mal Alkohol. „Der hat jedes Mädchen in München angeschrieben.“ Wenn sie zusammen unterwegs sind, ist Farhad immer gut drauf, seine Scherze beschreibt Karim im Nachhinein als „kindisch“. In ihrem gemeinsamen Chatverlauf nennen sie sich „Bruder“, reagieren auf die jeweiligen Instagram-Stories und schicken sich Herzen und Lachsmileys. Farhad lebt ein Leben, das viele mit Anfang 20 führen – und in dem, entgegen anderer bisheriger Berichte, islamistische Inhalte zunächst scheinbar keinen Platz haben.
Das ändert sich ab Herbst vergangenen Jahres. Farhad spricht plötzlich öfter über den Koran, statt über Fitness postet er zum Islam. „Den hat Religion vorher nicht so gejuckt“, wundert sich Karim, ihr Kontakt flacht ab Oktober ab. Sie reagieren nur noch selten auf ihre Beiträge bei Instagram, in den letzten drei Wochen vor der Tat schottet sich Farhad komplett ab. In dieser Zeit muss er sich radikalisiert haben. Reichten ein paar Monate, um genug Hass für eine solche Tat zu entwickeln? Eine psychische Erkrankung habe Karim bei Fahrad nie mitbekommen, Drogen habe er auch keine genommen. „Der war schon immer ein bisschen crazy, hat viel Scheiße gelabert“, sagt Karim. Für radikales Gedankengut sei Farhad aber nicht anfällig gewesen.
Nach der Tat sieht Karim Farhads Mutter im afghanischen Fernsehen weinen. Man sieht ihr die Scham und ihre Verzweiflung an. Alle, die den Attentäter kennen, ringen um Erklärungen für das Unerklärbare.
VINZENT TSCHIRPKE