Lidia und ihr Avatar

von Redaktion

Der Avatar stand im Klassenzimmer auf Lidias Platz.

Hausaufgaben macht Lidia noch am liebsten im Bett. Den Unterricht verfolgt sie wieder im Klassenzimmer. © Sabine Hermsdorf-Hiss

Wolfratshausen – Manchmal hätte sich Lidia am liebsten unter ihrer Bettdecke vor der ganzen Welt versteckt. Sie hat sich furchtbar gefühlt. Von der Operation schmerzte ihr Bein, von der Chemotherapie war ihr ständig übel. Sie hatte ihre Haare verloren, trug deshalb immer Mützen tief ins Gesicht gezogen. Einen Vormittag in der Schule hätte sie nie durchgestanden. Außerdem wollte sie nicht, dass ihre Mitschüler sie so krank sehen. Aber das Schuljahr wiederholen wollte Lidia auch nicht. Ihre Schule hat ihr geholfen, die schwersten Monate ihres Lebens durchzustehen. Dank eines Avatars konnte die 13-Jährige virtuell im Klassenzimmer sein und den Unterricht verfolgen.

„Meinen kleinen Freund“ nennt sie den weißen Roboter. Ein ganzes Schuljahr stand er auf ihrem Platz im Klassenzimmer. Wenn sich Lidia morgens fit genug fühlte, schrieb sie ihre Lehrer im Klassen-Chat an. Dann wurde der Avatar aus dem Schrank geholt, auf dem Tisch platziert und angestellt. Durch seine Roboteraugen konnte Lidia von ihrem Bett in Wolfratshausen aus alles sehen, was im Klassenzimmer passierte. Sie konnte seinen Kopf über ihr Tablet steuern. Wenn sie sich meldete, leuchtete der Avatar grün und ihre Lehrer riefen sie auf. Durch den Lautsprecher konnte die Klasse ihre Stimme hören. Ihr kleiner Freund hat ihr ein wenig Normalität geschenkt – in einer Zeit, in der nichts normal war.

Wenige Tage vor ihrem 12. Geburtstag hatte Lidia erfahren, dass sie im rechten Oberschenkel Knochenkrebs hat. Kurz darauf wurde sie das erste Mal operiert. Dann noch mal. Und dann begann die Chemotherapie. Sie verbrachte viele Tage im Krankenhaus, erst im Oktober durfte sie wieder nach Hause. Das neue Schuljahr hatte gerade angefangen. Ohne Lidia. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass sie sich einmal so nach der Schule sehnen würde.

Denn früher waren Schultage die Hölle für Lidia. „Ich wurde gemobbt.“ Trotzdem wollte sie unbedingt in ihrer Klasse bleiben. Sie hatte gerade zwei Freundinnen gefunden – und Angst, die wieder zu verlieren.

Die Mittelschule Wolfratshausen hat vom Medienzentrum des Landkreises einen Avatar ausgeliehen. Er kommt dann zum Einsatz, wenn ein Schüler länger krank ist und den Unterricht von zu Hause aus verfolgen möchte. Die Eltern von Lidias Mitschülern mussten eine Erklärung unterschreiben, dass sie einverstanden sind. Kritische Stimmen gab es nicht, berichtet Schulleiter Frank Schwesig. Alle wollten Lidia unterstützen. „Es ging dabei weniger um die schulische Leistung“, betont er. „Sondern um das Soziale.“ Lidia sollte zumindest virtuell bei ihrer Klasse sein können. Ihre beiden Freundinnen Sarah und Vroni durften in den Pausen im Klassenzimmer bleiben, um mit Lidia über den Avatar zu reden. Die 13-Jährige konnte nicht nur ihre Stimme ins Klassenzimmer schicken – sondern auch Emotionen. Wenn sie verwirrt war, konnte sie eine hochgezogene Augenbraue über dem Avatar-Auge erscheinen lassen. Die Augen ihres Roboters konnte sie traurig oder fröhlich blicken lassen. „Die traurigen Augen habe ich nur selten gebraucht“, sagt Lidia.

Für Prüfungen lernen musste sie die gesamte 7. Klasse über nicht – sie hätte es auch gar nicht geschafft. Manchmal musste sie sich im Unterricht melden, um zu sagen, dass sie ausschalten und sich ausruhen muss. „Gute Besserung, Lidia, bis morgen“, hörte sie ihre Mitschüler dann rufen. Manchmal kam sogar eine Lehrerin zu ihr nach Hause, um mit ihr zu lernen. „An vielen Tagen hat mich das gut abgelenkt“, sagt sie heute. Am Ende des Schuljahres bekam sie statt Noten eine schriftliche Beurteilung. Die Schule gab ihr die Möglichkeit, in die 8. Klasse zu wechseln und im Laufe des Schuljahres selbst zu entscheiden, ob sie bleiben oder zurück in die 7. möchte.

Im September saß Lidia das erste Mal wieder im Klassenzimmer. Immer noch mit Mütze und Schmerzen im Bein. Aber der Krebs war besiegt. „Einige meiner Mitschüler haben mich zuerst gar nicht erkannt“, erzählt sie und lacht. Doch die 13-Jährige hat schnell wieder ihren Platz in der Klasse gefunden – heute fühlt sie sich dort wohler als früher. Auch im ersten Halbjahr hat sie den Avatar wegen der vielen Arzttermine noch oft gebraucht. Sie läuft noch mit Krücken und wenn sie lange sitzt, tun ihr die Beine weh. Aber sie hat kein Schuljahr verloren. Neulich gab es Zwischenzeugnisse. Ihre schlechteste Note ist eine 3.

Vor wenigen Tagen musste die Schule Lidias kleinen Freund zurückgeben. Ein krankes Kind an einer anderen Schule braucht ihn jetzt. „Als ich an diesem Tag nach Hause gekommen bin, hatte ich ein paar Tränen in den Augen“, sagt Lidia. Aber sie weiß ja sehr gut, wie wichtig die Arbeit ihres Avatars ist. „Ich hoffe, dass er dem anderen Kind genauso sehr helfen wird wie mir.“

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