In der Münchner Straße in Dachau schließen mehrere Traditionsläden. © Marcus Schlaf (4)
Er hatte viele vor seiner Kamera: Guido Glück muss den Fotoladen Sessner aufgeben.
Experten für Schreibwaren: Christian und Marianne Bäck schließen Ende Mai. © no
Sie widmete ihr Leben den Spielwaren: Karin Märkl muss ihren Laden aufgeben. © no
Dachau – Karin Märkl räumt Playmobil-Kartons aus einem Regal, die Schränke neben ihr sind teilweise schon leer. Ein paar Kunden schauen sich im Laden um. Ein kleiner Junge nimmt einen Dinosaurier aus einem Regal, während seine Mutter Karin Märkl grüßt. Im Laden läuft gerade der Abverkauf, alles muss raus. Bei Spielwaren Schmidt ist Ende April Schluss – nach 45 Jahren. „Was nicht wegkommt, spende ich an Kindergärten“, sagt Märkl und rückt ihre schwarze Brille zurecht. Es fällt ihr schwer, sich von ihrem Laden zu trennen. Und von ihren sechs Mitarbeiterinnen. Der Laden war Märkls Lebensinhalt, schließlich verbrachte sie die meiste Zeit ihres Lebens im Geschäft.
Ein Vierteljahrhundert lang waren für sie immer ihre Kunden das Wichtigste. Und die Qualität der Spielsachen. „Ich habe meine Artikel immer selbst ausgesucht und nur das verkauft, hinter dem ich stehe“, sagt die 60-Jährige. Sie schiebt die Kartons auf die Seite und läuft zu einer Glasvitrine mit mehreren Steiff-Tieren. „Meine Tochter Julia hat ein Steiff-Pferd als Kind bekommen und hat‘s heute noch.“ Geht vielen ihrer Stammkunden ähnlich. Einige kamen schon als Kinder und heute als Erwachsene zu ihr. Aber: Es kommen nicht mehr genug Kunden. Viele bestellen online oder kaufen die Spielsachen günstiger in Handelsketten.
Auch Märkls Knie machen nicht mehr so richtig mit. Sie läuft in die Technik- und Modellbahnabteilung. Auch dort: halbvolle Schränke mit Miniatur-Zügen und Modellautos. Hier oben war sie immer die „Lokführerin“. Sie fährt sich durch das kurze rotbraune Haar. Wie‘s in ihrem Laden weitergeht, weiß sie nicht. „Ich fahre jetzt erst mal drei Wochen in den Urlaub nach England, um auf schönere Gedanken zu kommen.“
In Dachau hat sich das Ende von Spielwaren Schmidt längst herumgesprochen. „Ich find‘s bitter, dass der Laden dicht macht“, sagt Christian Zauner. Er kennt den Laden seit seiner Kindheit. „Als kleiner Bub habe ich hier meine erste Eisenbahn gekauft“, sagt der 49-Jährige. „Das war einfach etwas Besonderes.“ Auch für seinen Sohn würde er dort gerne die Modellbahn kaufen. Bei Lokführerin Karin Märkl.
Sie ist nicht die Einzige, die aufgeben muss. Auf der anderen Straßenseite sitzt Guido Glück im Fotoladen Sessner an einem Holztisch und blättert durch ein braunes Lederfotobuch, darauf steht Chronik. Der 62-Jährige setzt seine Brille auf, nimmt ein Foto heraus. Papst Benedikt. „Wir haben ihn 2006 im Auftrag des BR fotografiert“, sagt Glück. Foto Sessner gibt‘s seit 96 Jahren. Fotos und Erinnerungen aus knapp einem Jahrhundert – hier geschossen oder entwickelt. Jetzt wird bald das Licht ausgeknipst. Denn: Seit Corona ging‘s bergab. Jahr um Jahr schaute Glück besorgt auf die Verkaufszahlen. Im Dezember waren sie trotz Weihnachtsgeschäft so schlecht, dass er sich entschied, aufzugeben. Früher waren sein Können und sein Fotolabor gefragt. „Heute sind wir nur noch Helfer in der Not. Na ja“, sagt Glück, seufzt und setzt seine Brille ab. Dann klappt er die Chronik zu. Für ihn geht eine Ära zu Ende. Wie‘s für ihn weitergeht, weiß er noch nicht.
Karin Märkl und Guido Glück sind keine Einzelfälle. „Die monatelangen Schließungen während der Pandemie haben viele Einzelhändler stark getroffen“, sagt Bernd Ohlmann vom Handelsverband Bayern. Danach ging es für viele nicht mehr bergauf. Dann kam der Ukrainekrieg, die Inflation – „viele Leute sind verunsichert und halten ihr Geld zusammen“, sagt Ohlmann. Sie kaufen im Discounter. Oder im Internet.
Knapp 400 Meter entfernt vom Dachauer Fotoladen stehen mehrere Grußkarten-Ständer vor Schreibwaren Kölbl: Hochzeitskarten, Geburtstagskarten mit bunten Luftballons, Trauerkarten. Auch dieses Geschäft werden die Dachauer Ende Mai verlieren. „Uns wurde grundlos gekündigt“, sagt Inhaber Christian Bäck. Der 60-Jährige hätte gerne weitergemacht. „Ich kenne hier schließlich jeden Bleistift mit Vornamen.“ Seinen Humor will er sich nicht nehmen lassen. Jetzt sollen hier eine Fahrschule und ein Eiscafé einziehen. Und wieder ein Traditionsgeschäft weniger mitten in Dachau.
Dem Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) macht die Entwicklung Sorgen: „Es ist zu befürchten, dass bei einem weiteren Anstieg des Onlinehandels Läden bestimmter Branchen weniger werden.“ Es sei naiv zu glauben, dass sich Veränderungen im Einkaufsverhalten einer Gesellschaft nicht auf das Stadtbild auswirken. Wer bei Spielwaren Schmidt und Foto Sessner neu einzieht, weiß Hartmann noch nicht. Die Ladengebäude gehören nicht der Stadt, sondern den Eigentümern. Und die entscheiden, wie‘s weitergeht.
Viele Dachauer können sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sie Legosteine oder Buntstifte bald nicht mehr in der Innenstadt kaufen können. „Ich finde es schlimm, dass die Traditionsläden schließen“, sagt Ruth Hederer. Die 68-Jährige möchte nicht online bestellen müssen. „Hier sieht‘s bald aus wie ausgestorben.“ Ulrike Weichselgartner steht vor Glücks Fotoladen. „Als mein Mann noch lebte, haben wir hier unsere Kameras gekauft“, sagt die 84-Jährige. „Mir tut‘s leid für den Guido. Ich kenne ihn gut, weil ich schon seit 30 Jahren herkomme.“ In Dachau kennen die Leute die Ladenchefs noch beim Vornamen. Wenn die Geschäfte schließen, dann weichen Vornamen der Anonymität.