Ein Treffen zwischen Ärztin und Ex-Patientin: Antonia spricht mit Dr. Silke Naab, Chefärztin für Psychotherapie an der Schön Klinik Roseneck. © Yannick Thedens
München/Prien – Neben Antonia steht ein Stuhl. Auf ihm sitzt ihre Esssucht. Das soll sich die 16-Jährige vorstellen, sagt ihre Therapeutin. Sie sind allein im Behandlungszimmer der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Trotzdem ist der Raum voll. Denn an der Essstörung hängen viele Zwänge: exzessives Sporttreiben, Kalorienzählen, Kontrollwiegen und der ständige Vergleich mit anderen. Der Wunsch, noch sportlicher und dünner zu sein, wiegt tonnenschwer.
Die Szene ist zwei Jahre her. Antonia, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, bekommt beim Gedanken daran noch Gänsehaut. Heute ist die Münchnerin fast 18. Die zierliche junge Frau unter dem XXL-Pulli hat – das attestiert Silke Naab, Chefärztin für Psychotherapie an der Priener Klinik – inzwischen den Weg in die Gesundheit gefunden. Sie hat ihre Ängste herausgefordert und besiegt. Ein Jahr lang, bis Februar 2024, war sie in stationärer Behandlung. Essgestört war sie schon davor. Alles könnte am 16. März 2020 mit dem ersten Lockdown begonnen haben.
Essstörungen sind neben Depressionen und Angststörungen eine Form psychischer Erkrankungen, wegen denen 2023 fast 130 000 junge Menschen zwischen zehn und 19 Jahren in Deutschland stationär behandelt worden sind. Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen. Noch immer kämpfen Betroffene, Ärzte und das Gesundheitssystem mit den Folgen, sagt Ulrich Voderholzer, Chefarzt und Ärztlicher Direktor an der Schön Klinik Roseneck. „Bereits in den vergangenen 10 bis 20 Jahren hat die Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen stetig zugenommen. Die Pandemie hat diesen Trend massiv verstärkt und zu einem deutlichen Anstieg Ess- und depressiver Störungen geführt.“
Als die Pandemie begann, war Antonia zwölf. „Plötzlich hatten wir viel Zeit für das Handy und unendlich viele Videos“, erzählt sie. Tag für Tag zeigen ihr fitte Frauen, wie sie den Lockdown nutzen, um ihren Körper zum Ideal zu transformieren. Deren Workouts und Essenspläne lassen Antonia sich das Ziel setzen: „Nach dem Lockdown kehre ich schöner und disziplinierter denn je zurück.“ Ärzte wie Voderholzer kennen heute die Folgen der exzessiven Internetnutzung: „Soziale Netzwerke können reale zwischenmenschliche Kontakte ersetzen und so das Gefühl der Isolation verstärken.“
Der Wahn lässt auch Antonia damals vereinsamen, sie trainiert nur noch allein. Die Ehe ihrer Eltern scheitert. „Ich hatte große Angst, dass die Pandemie nie enden und in meinem Leben nichts vorangehen wird“, erzählt sie. Furcht und Einsamkeit eint viele Betroffene. „Viele Jugendliche erleben hohen Erwartungsdruck. Hinzu kommen Unsicherheiten über die eigene Zukunft, besonders in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen“, so Voderholzer. Rosig sind die Zeiten nach wie vor nicht. Soziale Medien werden von Jugendlichen noch immer übermäßig genutzt. Voderholzer sieht das Risiko für psychische Störungen deshalb weiter erhöht. Jeder fünfte Jugendliche sei psychisch belastet. Also müssten Erkrankungen früh erkannt und behandelt werden, damit sie nicht chronisch würden.
Hilfe zu finden, ist aber nicht einfach. Kinder und Jugendliche warten im Schnitt 28 Wochen auf ambulante psychotherapeutische Versorgung, auf stationäre ebenfalls bis zu sechs Monate. Da ist es oft schon kurz vor zwölf. Als Antonia nach Prien kam, war sie untergewichtig und konnte nicht mehr laufen: „Ich habe mich wie tot gefühlt.“ Experten wie Voderholzer fordern, die Angebote zu erhöhen, etwa durch telemedizinische Therapiemöglichkeiten. Video-Therapie eigne sich zur Früherkennung und Angehörigenberatung.
„Egal, wie gut eine Therapie ist, man muss selbst gesund werden wollen und aktiv mitmachen“, sagt Antonia heute. Ihrer Esssucht hat sie damals in Prien einen Brief geschrieben – und ihn symbolisch im Chiemsee versenkt. Ein Rezept hat sie sich dort an die Hand geben lassen: „Mir hilft es, Pläne für mein Leben zu haben.“ Gesund sein, Abi, Reisen, Studium. Alles ohne Zwang.
CORNELIA SCHRAMM