Ab heute findet die Zweite Leichenschau im Krematorium von Thomas Engmann, Geschäftsführer der Feuerbestattung Südostbayern in Traunstein, rund 30 Mal pro Tag statt. © Privat
München/Traunstein – Thomas Engmann hat sich heute schon sehr früh auf den Weg zur Arbeit gemacht. Denn der 1. April bringt für seine Angestellten in der Feuerbestattung Südostbayern in Traunstein einige neue Arbeitsschritte mit sich. Fortan kommt jeden Tag ein Rechtsmediziner ins Haus, um 30 Verstorbene, die hier im Durchschnitt täglich eingeäschert werden, noch mal zu untersuchen. Kein Aprilscherz, eine neue Verordnung. Nach 55 Jahren führt der Freistaat die Pflicht zur Zweiten Leichenschau vor Feuerbestattungen wieder ein. Für die 23 Krematorien bedeutet das erheblich mehr Aufwand.
„Das Institut für Rechtsmedizin Traunstein wird bei uns an fünf Nachmittagen die Woche die Zweite Leichenschau durchführen“, sagt Engmann. „Als Feuerbestatter haben wir die Pflicht, die Verstorbenen würdevoll im Sarg zum Rechtsmediziner zu bringen und zu entkleiden. Ein Mitarbeiter wird bei der Leichenschau assistieren.“ Danach werden sie wieder abgeführt und der Arbeitsbereich gereinigt. Eine halbe Stunde wird das Prozedere jeweils dauern. „Wir müssen für das Zu- und Abführen mindestens einen weiteren Mitarbeiter abstellen.“
Schon zu Pandemiebeginn hatte Engmann eine Viertelmillion Euro in den Ausbau der Kühlräume gesteckt, um die neue Verordnung umsetzen zu können. Der 61-Jährige stammt aus NRW, wo die Zweite Leichenschau schon immer Pflicht ist. Er wusste, was auf seinen Betrieb zukommt. Angehörige sollten hier trotz der aufwendigeren Logistik nicht länger als 48 Stunden auf die Einäscherung warten müssen.
2400 Tötungsdelikte könnten unentdeckt geblieben sein
„Mit dem Bayerischen Landtagsbeschluss von 2019 hieß es, dass die Zweite Leichenschau schnell, vielleicht sogar schon 2021 kommt. Deshalb haben wir privaten Krematoriumsbetreiber sofort reagiert“, erinnert sich Engmann zurück. Aber bis die Verordnung in Kraft trat, sollte es noch lange dauern.
Rechtsmediziner hatten lange für sie gekämpft. Sie hoffen, dass durch die Zweite Leichenschau künftig mehr Tötungsdelikte aufgedeckt werden, bevor Hinweise für immer zu Asche werden. Bei der Ersten Leichenschau werden vor allem spurenarme Tötungsdelikte bei Alten und Pflegebedürften häufig übersehen. Gerade, wenn die Untersuchung daheim, im Wohn- oder Schlafzimmer des Toten, stattfindet und der Hausarzt dabei von Angehörigen umringt ist. Experten schätzen, dass auf ein erkanntes Tötungsdelikt bis zu drei unerkannte kommen. Das wären bis zu 2400 Fälle pro Jahr.
Seit 2016 wird über die Wiedereinführung der Zweiten Leichenschau diskutiert. Bis 1970 war die schon mal Pflicht, fiel laut Gesundheitsministerium aber einer Reform zum Opfer, die Abläufe im Bestattungswesen vereinfachen sollte. Die neue Verordnung sollte zum 1. Januar 2023 in Kraft treten, dann Mitte 2024. Aber wer könnte sie in den 23 Krematorien umsetzen? Die überlasteten Gesundheitsämter alleine nicht. Für die „hoheitliche Aufgabe“ kommen nur Ärzte infrage, die Rechtsmediziner oder Pathologen sind oder einem Institut für Rechtsmedizin oder dem öffentlichen Gesundheitswesen angehören. Zwei Ausschreibungsrunden später dürfen das nun auch Ärzte, die jährlich einen zweistündigen Kurs besuchen. Und heute geht‘s los.
Ein neues Formular gibt es schon. Bei der Todesbescheinigung handelt es sich um ein über 20-seitiges Durchschlagspapier samt Abrissen für den ersten Leichenbeschauer, Standesamt, Gesundheitsamt, Krematorium – und jetzt auch zweiten Leichenbeschauer. Wie einst, 1970. Für die heute 100 000 Einäscherungen pro Jahr müssen in Bayern auch nach wie vor genau so viele Formulare per Hand ausgefüllt werden. 8000 davon in Traunstein. Eine Reform zur Digitalisierung ist nicht in Sicht.
Pro Leichenschau werden Ärzte mit 100 Euro vergütet, so will es der Gesetzgeber. Plus Mehrwertsteuer und einen eventuellen Aufschlag kostet Erbnehmer eine Feuerbestattung ab heute bis zu 200 Euro mehr. Sofern der zweite Leichenbeschauer mit dem ersten übereinstimmt. Vermutet er einen nicht natürlichen Tod, kommt der Obduktionsschein im Durchschlagblock ins Spiel – und damit Polizei und Staatsanwaltschaft.