Der 100-jährige Überflieger

von Redaktion

Nackter Oberkörper, blonde Haare: Haßold posiert als junger Mann im Ballonkorb.

Wohlfühlort: Horst Haßold im Ballonmuseum in Gersthofen, wo er erst vor Kurzem seinen 100. Geburtstag feierte. Immer mit dabei: seine schottische Jagdmütze. © Marcus Schlaf

Augsburg – Am Comer See, einem der wohl idyllischsten Orte Norditaliens, ist das Leben von Horst Haßold für einige Sekunden in größter Gefahr. Der Wind schleudert den jungen Mann mit seinem Gasballon direkt in eine Hochspannungsleitung. Die Hülle des Ballons löst sich in Flammen auf. Im Korb sitzt der Augsburger mit zwei italienischen Journalisten. Die Männer stürzen mehrere Meter in die Tiefe, prallen mit voller Wucht auf den Boden. Aber sie überleben. Haßold kommt mit einem Bluterguss davon.

„Das war heftig“, sagt er Jahrzehnte später, als er die Geschichte im Ballonmuseum Gersthofen bei Augsburg erzählt. Ob er Angst hatte? „Dafür war keine Zeit.“ Er hatte riesiges Glück, das weiß er. Weil er nicht mehr so sicher auf den Beinen steht, sinkt er in einen schwarzen Sessel. Im Museum fühlt sich Haßold, der in der Region als Ballonfahrer-Legende gilt, sichtlich wohl. Hier hat er kürzlich mit 300 Gästen gefeiert. „Man wird ja nur einmal 100.“ Verlässt er sein Haus, macht er sich schick. Der Hemdkragen unter dem Strickpullover wirft keine Falte, die ergrauten Haare sind glatt gekämmt.

Sein bewegtes Leben begann am 15. Februar 1925 in einem Haus mitten in Augsburg. Hier kam er ein paar Jahre vor seiner Schwester zur Welt. Seine Heimat bedeutet dem „stolzen Augschburger“ sehr viel. Er wuchs dort auf, machte 1943 sein Abitur. Und musste dann in den Krieg ziehen. Im Herbst 1944 nahmen ihn die Alliierten in Nordfrankreich gefangen, er kam vier Jahre in ein schottisches Straflager. Einmal kehrte er mit seinen zwei Töchtern und Söhnen zurück. Als er das erzählt, wird seine Stimme brüchig. Die Zeit hat Spuren hinterlassen. Bis heute.

Spricht er aber über Ballone, entspannt er sich sofort. Denn sie gaben ihm als jungem Mann die Freiheit zurück, die ihm Krieg und Gefangenschaft genommen hatten. Im Ballonkorb fühlte er sich so glücklich wie als Kind. Die Unbeschwertheit ist ihm auch auf einem alten Foto anzusehen: Er steht im Ballonkorb, lächelt in die Kamera. „Ja, das bin ich.“ Er deutet auf eine kleine Ausstellung. Die hat Haßold selbst mitgestaltet, gewidmet ist sie dem Freiballonverein Augsburg. Den hat er seit 1958 in führenden Positionen geprägt, ist nun Ehrenvorsitzender. Im Museum ist er ein geschätzter Gast. Trotz Ruhetag sperren die Mitarbeiter extra für das Interview auf.

Zu seiner Leidenschaft kam er durch die Liebe. In den 1950ern verlor er sein Herz an Gabriele und mit ihr ans Ballonfahren. Sie führte damals die Ballonfabrik in Augsburg, er stieg mit ein. 1957 machte er den Pilotenschein, wagte sich immer öfter in tausende Meter Höhe – über 500 Mal. Am wohlsten fühlt er sich im Gasballon. Wie dem orangegelben, der über dem Museumsboden schwebt. Mit Heißluftballonen fremdelt er. „Die sind zu laut.“ Lieber steigt er fast geräuschlos Richtung Himmel und staunt, wie klein alles unter ihm wird. So fühlt sich die Freiheit für ihn an.

Eine Lieblingsroute hat er nicht. Haßold kennt dutzende Länder von oben, flog sogar über die USA. Sehr angetan haben es ihm die Alpen. Über 20 Mal überquerte er das Hochgebirge, startete im schweizerischen Mürren und landete in Norditalien. Allein dabei legte er um die 4000 Kilometer zurück – was ungefähr der Strecke München–Doha entspricht. Die längste Einzelfahrt führte ihn von Augsburg bis Lausanne in der Schweiz, rund 600 Kilometer fuhr er an einem Tag. Insgesamt, schätzt Haßold, hat er locker 3000 Stunden in Ballonen verbracht. Macht etwa 125 Tage, vier Monate oder ein Dritteljahr. Seinen treuesten Begleiter trug er auf seinem Kopf: eine grüne, schottische Jagdmütze. Während des Gesprächs hält er sie fest in den Händen. Sie durfte auf keiner Fahrt fehlen.

Alle Fahrten zusammengerechnet, hat er mehrere Male die Welt umrundet. Eine genaue Kilometerzahl hat er nie erfasst. Das ist auch nicht so einfach: „Man weiß nicht, was der Wind mit einem vorhat.“ Deshalb fühlt er sich im Ballon so frei. Der Mensch muss nicht alles unter Kontrolle haben, findet er. Er behält sie fast immer – damals am Comer See verlor er sie. Vieles hat er noch vor Augen. Falls nicht, hilft ihm ein DIN A4-Ordner. Viele Erinnerungen sind darin sorgfältig eingeheftet – Urkunden, Zeitungsartikel, Fotos. Er kramt ein Foto heraus: Es zeigt ihn als Jungspund mit nacktem Oberkörper und blonden Haaren. Haßold lacht laut los.

Zum Lächeln bringt ihn auch seine Familie. Teile davon hat er mit seiner Leidenschaft angesteckt. Sein Sohn Rainer ist sogar zweifacher Weltmeister. Der Papa bezeichnet sich als „Sonntag-Nachmittag-Kaffeefahrer“. Ganz zur Ruhe kommt er aber nicht: „Freilich fliege ich noch.“ Bei ihm klingt das so selbstverständlich, wie wenn andere übers Autofahren sprechen. Nur Pilot will Haßold nicht mehr sein. Das überlässt er lieber seinem Enkel Jan. Sein nächstes Ziel hat der vierfache Großvater schon vor Augen: Ende April steigt in Gersthofen der Museumscup. Da will Haßold unbedingt dabei sein. Wer dann am Augsburger Himmel einen Ballonkorb erspäht, in dem ein Mann mit grüner Jagdmütze steht, hat ihn vermutlich entdeckt: den 100-Jährigen, der vom Ballonfahren einfach nicht genug bekommen kann.

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