Pflege bis zur Schmerzgrenze

von Redaktion

Sigrun Knechtel aus Poing pflegt ihren Mann Helmut aufopferungsvoll. © Johannes Dziemballa

Poing – Es begann mit kleinen Erinnerungslücken, Spaziergänge wurden kürzer, Erholungsphasen länger. Dann setzten die Ohnmachtsanfälle ein – Helmut Knechtel brach plötzlich zusammen. Immer öfter. Auch die Demenz schritt erbarmungslos voran. Für die Familie des heute 84-Jährigen begann ein Ärzte-Marathon auf der verzweifelten Suche nach Linderung. Doch nichts half. Seine Frau Sigrun (80) und die gemeinsamen Kinder mussten zusehen, wie der einst rüstige Rentner innerhalb von fünf Jahren zu einem schweren Pflegefall wurde. Helmut Knechtel gilt als austherapiert. Seine Frau pflegt ihn aufopferungsvoll daheim, ihre Kinder unterstützen sie, wo sie können. Doch oft sind alle am Ende ihrer Kräfte.

„Unser Leben spielt sich im Wesentlichen hier ab“, sagt Sigrun Knechtel im Wohnzimmer ihres Hauses in Poing im Kreis Ebersberg, wo Helmut in einem Pflegebett liegt. Daneben stehen ein Toilettenstuhl und ein Gästebett. Dort schläft sie. „Es ging irgendwann nicht mehr anders.“ Denn Helmut konnte erst nicht mehr laufen und dann nicht mal mehr sitzen, ohne ohnmächtig zu werden. Er braucht rund um die Uhr Betreuung. „Das Problem ist, dass der Blutdruck sofort massiv absinkt, wenn wir ihn hinsetzen“, sagt seine Tochter Eva Barth (56). Was der Grund für die Blutdruckprobleme ist, ist bis heute nicht genau diagnostiziert. Eine Spazierfahrt im Rollstuhl? Unmöglich. Selbst baden in Sitzposition geht nicht. Sein Sohn Martin Knechtel (53) kommt deshalb mehrere Tage in der Woche zur Unterstützung, um ihn zu baden und „Sport“ mit ihm zu machen, also leichte Aktivitäten im Liegen. Bei schönem Wetter bringt er ihn raus auf den Balkon, damit er das Sonnenlicht genießen kann.

Um ihre Mutter zu unterstützen, ist die Tochter wieder daheim eingezogen. „Derzeit fahre ich für meinen Vollzeitjob nur einmal in der Woche ins Büro. In den restlichen Tagen arbeite ich vom Home-Office aus“, sagt sie. Dass sie ihrer Familie hilft, ist für sie selbstverständlich. Weil Eva Barth 40 Stunden arbeitet, bekommt sie für die Pflege ihres Vaters keine zusätzlichen Rentenpunkte für ihre eigene Rente. Würde sie zehn Stunden weniger arbeiten, erhielte sie einen Rentenanspruch für ihre Pflege-Arbeit. „Das ist so nicht fair“, findet sie.

Neben den pflegerischen Tätigkeiten, die Sigrun Knechtel größtenteils übernimmt, kümmert sich die Tochter um die überbordende Bürokratie – Anträge ausfüllen, Behördengänge, Schriftverkehr mit Ämtern, Kassen und Ärzten, Hilfen beantragen, Recherchen zu steuerlichen Entlastungsmöglichkeiten. Eva Barths Tage enden nicht selten gegen Mitternacht. „Man kann sich gar nicht vorstellen, was auf einen zukommt.“ Es gebe zwar Hilfestellungen, sagt sie, aber man weiß erst mal nicht, wohin man sich genau wenden soll. Man fühle sich alleingelassen. Allein das Beantragen eines Pflegegrads sei ein Kampf gewesen, sagt Eva Barth und zeigt fünf dicke Aktenordner. „Wir hatten damals Pflegegrad 2 und wollten aufgrund der fortschreitenden Erkrankung auf 3 erhöhen. Und es war nicht möglich. Der Antrag wurde abgelehnt.“

Sie legte Widerspruch ein. Und wartete. Wieder abgelehnt. Als sie erneut widersprach, hieß es: „Sie können nicht noch mal Widerspruch einlegen.“ Also alles von vorne, Dokumente zusammensuchen, den Vater begutachten lassen, einen neuen Antrag stellen. Wieder warten. Bis endlich der Bescheid kommt: Pflegegrad 4. „Das Ganze hat sich über ein dreiviertel Jahr gezogen, da ging es ihm schon deutlich schlechter.“

Helmut Knechtel hat nun den höchsten Pflegegrad 5. Er erhält 990 Euro Pflegegeld im Monat. Seit Kurzem kommt ein ambulanter Pflegedienst alle zwei Wochen zur Unterstützung – und, weil Sigrun Knechtel vorsorgen will: „Was, wenn es mir mal nicht mehr so gut geht? Sie sollen meinen Mann kennen und richtig mit ihm umgehen können.“ Weil das Ehepaar im Eigenheim wohnt und beide eine Rente beziehen, kommen sie finanziell über die Runden. Doch die mentale Belastung sei groß, so Sigrun Knechtel. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so hart wird.“ Die Erinnerungen an ihren sportlichen und reiselustigen Helmut, der den Mont Blanc bestiegen hatte und von München bis nach Venedig gewandert war, sind schön und schmerzhaft zugleich.

Dieses Jahr im Juni sind die ehemalige Friseurmeisterin und der frühere Kundendienstleiter 58 Jahre verheiratet. „Ich hatte nie die Überlegung, meinen Mann ins Heim zu geben. Das war schon bei meinen Eltern so. Sie durften auch daheim sterben und die Schwiegermutter auch. Die Familie hilft dann und steht zusammen. Mein Mann erträgt das Dahinschwinden seines Lebens mit großer innerer Kraft und ohne Gejammere. Unsere Liebe bleibt.“

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