„Freilassung aller politischer Inhaftierten“: Das fordern die Demonstranten in Berlin. Sie hoffen, dass die deutsche Politik eine klarere Haltung gegenüber Erdogan bezieht. © Boillot/SZ Photo
München – Diyarbakir in den frühen Morgenstunden des 4. November 2016. Die türkische Stadt liegt noch im Halbdunkel, die Straßen sind still. Vor einem Haus herrscht jedoch geschäftiges Treiben: Polizeiwagen mit laufenden Motoren warten auf den kurdischen Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas, der von bewaffneten Beamten aus seiner Wohnung geführt wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt seinen größten Konkurrenten verhaften. In einem Schauprozess wird Demirtas später zu 42 Jahren Haft verurteilt.
Ähnlich radikal geht Erdogan nun gegen einen weiteren politischen Rivalen vor: den populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Türkei-Experte Eren Güvercin von der Alhambra Gesellschaft befürchtet, dass Imamoglu dasselbe Schicksal droht wie dem inzwischen seit über acht Jahren inhaftierten Demirtas. Schuld daran sei unter anderem die zögerliche Reaktion der deutschen und europäischen Politik, wegen der sich Erdogan in Sicherheit wiege: „Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Freilassung von Demirtas hat die Türkei einfach ignoriert, obwohl sie verpflichtet ist, diese Urteile umzusetzen. Wirkliche Konsequenzen gab es deswegen nie.“
Güvercin sieht die Türkei auf einem gefährlichen Weg: Erdogan habe das Land in eine Autokratie umgewandelt. „Nicht nur weite Teile der Medienlandschaft hat er fest in der Hand, sondern auch die Justiz und die Sicherheitsbehörden stehen zu seinen Diensten.“ Die Festnahme von Oppositionspolitikern zeige, dass Erdogan es nicht einmal mehr für nötig halte, den demokratischen Anschein zu wahren.
Die deutsche Politik müsse sich nicht nur mit dem zunehmend autoritären Regime in der Türkei kritisch auseinandersetzen, sondern auch mit Erdogans Einfluss hierzulande. „Wir müssen uns in Deutschland bewusst machen, dass Erdogan seit langen Jahren eine sehr aggressive, islamistisch und türkisch-nationalistische Diasporapolitik in Deutschland betreibt, einerseits über seine Lobbyorganisation UID, aber auch über die türkisch-muslimischen Verbände wie DITIB, die ein deutscher Ableger der türkisch-staatlichen Religionsbehörde Diyanet ist“, erklärt Güvercin.
In Deutschland leben nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) rund 2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund – die größte Community weltweit. Ungefähr 1,5 Millionen Deutschtürken sind in der Türkei wahlberechtigt. 65 Prozent stimmten bei der letzten Präsidentschaftswahl 2017 für Erdogan.
Der Versuch, die türkische Community in Deutschland im Sinne von Erdogan zu prägen, sei – entweder bewusst oder unbewusst – viele Jahre nicht wahrgenommen worden. „Wir brauchen seitens der Politik eine ernsthafte Auseinandersetzung damit“, so Güvercin. Spätestens mit der Festnahme Imamoglus sei der Moment für die deutsche Politik gekommen, klare Haltung gegenüber Erdogan zu beziehen.
Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP, der Imamoglu angehört, bezieht bereits seit Jahren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland eine klare Position. Sie fiebert dem Ende der Erdogan-Ära entgegen. Aber: „Die CHP will keinen gewaltsamen Umsturz. Wir wollen innerhalb des türkischen Rechtssystems bleiben, auch wenn wir das Vertrauen darin zunehmend verlieren“, sagt der Vorsitzende des CHP Bunds Berlin, Zilay Akcetin.
Um den öffentlichen Druck in der Türkei zu erhöhen, habe die CHP die finanziellen Unterstützer von Erdogans Partei AKP erstmals namentlich aufgezählt und gegen Unternehmen, die das Regime stützen, zum Boykott aufgerufen. Dies halte die sozialdemokratische CHP für ein effektives Mittel: „Die Sozialdemokraten stammen oft aus der mittleren und oberen Mittelschicht, sie konsumieren viel. Das macht schon etwas aus“, so Akcetin.
Von deutschen und europäischen Politikern fordert er eine deutlichere Abgrenzung von Erdogan. Unter der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe eine verfehlte Türkei-Politik begonnen. In der Hoffnung, er könne die Flüchtlingsströme aus Europa fernhalten, habe sich Deutschland zu abhängig von Erdogan gemacht. Akcetin erwartet eine werteorientierte Politik, die mit inhaftierten türkischen Oppositionspolitikern wie Imamoglu und Demirtas solidarisch ist. Bisher sei das nicht der Fall: „Die deutsche Politik toleriert Erdogan und die Entstehung einer fehlenden Demokratie in der Türkei.“