Vor 230 Jahren ist in Paris der französische Schriftsteller La Fontaine gestorben. Berühmt ist der Franzose für seine Fabeln. In ihnen beschreibt er anhand von Geschichten aus der Tierwelt, wie sich Menschen verhalten. Kurz und knackig, manchmal auch dramatisch oder höchst amüsant, kommt die Moral von der Geschicht‘ daher. Zum Beispiel in der Fabel vom Fuchs, der die ersehnten Trauben nicht erreichen kann und sie deshalb abschätzig beurteilt.
„Ein Fuchs aus der Gascogne oder Normandie, / Verhungernd fast, hat Trauben am Spalier erschaut. / Sie hingen hoch – doch ach, wie köstlich lockten sie / Mit ihrer reifen zartbehauchten Haut! / Das wär ein Mahl, wie‘s unserm Burschen wohl behagte. / Doch unerreichbar hing die süße Traubenglut. / Drum rief er: ‚Pfui, wie grün! Die sind für Lumpen gut!‘ / Und war‘s nicht besser so, als dass er sich beklagte?“ Eine Fabel, die etwas anders formuliert schon in der Antike im Umlauf war.
Wer wie der Fuchs etwas unbedingt möchte, aber nicht erreichen kann, behauptet gerne mal, das eigentlich Gewünschte sowieso nicht haben zu wollen. Obendrein macht er es dann noch schlecht. Die Fabel schildert den schönrednerischen Umgang mit einer Pleite. In der Psychologie wird das als Rationalisierung oder, sehr eindrucksvoll, als „kognitive Dissonanz-Reduktion“ bezeichnet. Der Fuchs versucht halt, einer schwierigen, ihm unangenehmen Situation nachträglich einen vernünftigen Sinn zu geben.
La Fontaine hat immer wieder davon erzählt, wie jemand die wirkliche Situation so umdeutet, dass es zwar nicht mehr den Tatsachen entspricht, aber einem selber gefälliger scheint. Man sieht auf diese Weise nicht mehr so dumm aus. Auf dem Markt habe ich kürzlich eine Variante davon erlebt. Ich durfte eine neue Sorte Schinken probieren. Neben mir ruft eine alte Dame zornig: „Ich will auch probieren!“ Selbstverständlich darf sie. Ein Erfolg für sie.
Aber offensichtlich hat es sie geärgert, dass sie nicht als Erste dran war. Sie verzieht das Gesicht. „Bah. Schmeckt nicht. Brauch‘ ich nicht.“ Und geht. Ein bisschen wie „Pfui, wie grün! Die sind für Lumpen gut!“. Zu denen ich vermutlich gehöre. Ich war zu langsam, um ihr triumphal etwas von „kognitiver Dissonanz-Reduktion“ hinterherzurufen. Gut so, sonst hätte ich mir den Schuh auch gleich noch selber anziehen können – und zwei pampige Füchsinnen wären sich begegnet. Sehr uncharmant.
Es ist schon notwendig, Dissonanzen, Missklänge und Widersprüche in sich und um sich herum aufzulösen. Auf Dauer ist es einfach nicht gesund, starke Spannungen zwischen Gefühlen, Gedanken und verschiedenen Verhaltensweisen oder Erlebnissen mit sich herumzuschleppen. Auflösen ist gut – aber eben ehrlich. So, dass man genau hinschaut, was sich in einem abspielt und damit klug umgeht. Der nächsten Füchsin und dem nächsten Fuchs helfe ich, Trauben zu pflücken. Bevor er womöglich an den Hühnerstall geht ….