Unsichtbare Barrieren: Nicht einmal das Online-Formular fürs Blindengeld kann Markus Ertl ohne fremde Hilfe ausfüllen. © Arndt Pröhl
München – Wenn Markus Ertl im Internet surft, kann einem beim Zuschauen leicht schwindlig werden. Ertl ist so gut wie blind, ohne Sprachassistent könnte er nicht am Bildschirm arbeiten. In doppelter Geschwindigkeit liest ihm die Computerstimme vor, was auf der Webseite geschrieben steht. Ertl hat so viel Übung, dass ihn das nicht mehr anstrengt. Er kennt Dutzende Tastenkombinationen auswendig, durch die er die Maus-Klicks ersetzen kann. Für das, was er am Computer macht, braucht er nicht mehr Zeit, als Menschen, die sehen können. Zumindest bis er an eine Webseite gerät, die nicht barrierefrei ist. Und das ist nicht selten der Fall. Denn Grenzen gibt es in der eigentlich doch grenzenlosen Weite des Internets jede Menge, wenn man nicht oder kaum sehen kann.
Es geht schon los mit sogenannten Captchas – den Tests, mit denen man beweisen muss, dass man ein Mensch ist. Wer nichts sehen kann, kann nicht anklicken, auf welchen Feldern eines Bildes Autos oder Ampel zu sehen sind. Ein weiteres Problem: Seiten oder Dokumente, denen die Struktur fehlt, anhand der er sich durchnavigieren kann. „Wenn eine Überschrift nicht als Überschrift formatiert ist, kann ich nicht dorthin springen“, erklärt Erl. Er muss sich das ganze lange Dokument vorlesen lassen. Das war etwa bei den Programmen aller Parteien der Fall. „Politische Partizipation ist für Blinde dadurch nicht komplett möglich.“ Und nicht einmal das Formular, das er einmal im Jahr ausfüllen muss, um Blindengeld zu bekommen, ist im Internet barrierefrei gestaltet.
Markus Ertl lebt in Lenggries bei Bad Tölz. Nicht nur dort kämpft er als Inklusionsbotschafter gegen sichtbare und unsichtbare Barrieren. Inzwischen arbeitet er auch hauptberuflich für den Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB). Barrierefreiheit im Internet ist für ihn gleichzeitig ein Herzens- und Dauerthema. Deshalb hat er mit großem Interesse eine Anfrage verfolgt, die der SPD-Abgeordnete Horst Arnold vor Kurzem an den Landtag gestellt hat. Arnold wollte herausfinden, wie es aktuell um die Barrierefreiheit im Internet bestellt ist.
Er habe selbst einen betroffenen Mitarbeiter, sagt Arnold. Deshalb wusste er bereits, dass viele öffentliche Seiten nicht barrierefrei sind. Laut Digital-Ministerium sogar mehr als die Hälfte (55 Prozent). Für 26 Prozent stehe die barrierefreie Umsetzung noch bevor, bei 29 Prozent ist sie begründet nicht vorgesehen. Etwa für ein Bewerbungsportal des Polizeidienstes. Allein darüber ärgert sich Arnold schon. „Es geht nicht um ein Begehr, sondern um einen Informationsanspruch, der für alle Bürger gelten muss – sonst ist es Ausgrenzung.“ Seit 2020 sind alle öffentlichen Stellen durch eine EU-Richtlinie verpflichtet, ihre Webseiten barrierefrei zu gestalten. Ende Juni tritt das Barrierefreiheits-Stärkungsgesetz in Kraft, dann gilt diese Pflicht auch für private Anbieter. Arnold betont: „Wenn es eine Pflicht gibt, muss es auch Sanktionen geben.“
„Mit der Barrierefreiheit im Internet geht es nur langsam vorwärts“, urteilt auch Steffen Erzgraber, Landesgeschäftsführer des Bayerischen Blindenbunds. Das ist nicht nur für den Betroffenen jeden Tag ein Kampf, betont er. „Auch Arbeitsplätze bleiben in Zeiten des Fachkräftemangels deswegen unbesetzt.“ Die Technik wäre jedenfalls da, um das Internet barrierefrei zu gestalten. Oft sei die Umsetzung aber halbherzig oder das Ergebnis werde nicht überprüft. Immer wieder stößt er auf Online-Shops oder Supermärkte, die zum Beispiel die Bilder auf ihren Seiten nicht beschriften. Manchmal hört Erzgraber auch Ansagen wie „unbekannter Schalter“ – wenn Navigationsschritte nicht benannt sind. Das macht es ihm und anderen Sehbehinderten unmöglich, sich auf einer Seite zurechtzufinden. Auch die Online-Banking-Seiten einiger Banken seien längst nicht barrierefrei. Auch Zugticket-Käufe oder Fahrplan-Apps würden Blinde noch viel Nerven kosten.
Immer wenden sich Betroffene deshalb an den BBSB. Auch von staatlicher Seite gibt es eine Überwachungs- und Durchsetzungsstelle. Doch die müsste personell besser aufgestellt und vor allem unabhängig sein, kritisiert Erzgraber. „Betroffene müssten viel stärker einbezogen werden, damit etwas vorwärts geht.“ Das würde sich auch Markus Ertl wünschen. Er sagt: „Das große Problem ist, dass die Barrieren für Blinde im Internet für Sehende nicht sichtbar sind.“