Olympia-Attentäter sahen kein TV

von Redaktion

Historiker widerlegen eine langlebige Legende zum Anschlag von 1972

Unzählige Kamerateams übertrugen die Geschehnisse am Olympischen Dorf. © Karl Schnörrer/dpa PA

Live und in Farbe konnte der Polizeieinsatz im Olympischen Dorf in München im TV verfolgt werden. Die Attentäter sahen die Bilder jedoch nicht – wie jetzt klar wurde. © Horst Ossinger

München – Männer in Trainingsanzügen, die schwer bewaffnet auf den Dächern des Olympischen Dorfes herumklettern – diese Szenen des Olympia-Attentats in München 1972 haben sich eingeprägt. Millionen sahen sie live im Fernsehen – denn der 5. September 1972 war auch ein TV-Ereignis. Doch haben die palästinensischen Attentäter damals mitgeschaut und waren so über den dann abgebrochenen Befreiungsversuch der Polizei frühzeitig informiert? Das suggerieren viele Berichte von Historikern und Journalisten. Zuletzt hat der preisgekrönte Kinofilm „September 5“, der das Attentat aus der Perspektive amerikanischer Journalisten des Sender ABC schildert, diese These genährt.

Doch offenbar ist das falsch. „Die Täter von München 1972 sahen keine TV-Bilder“, erklärt nun die internationale Historikerkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Olympia-Anschlags, die seit eineinhalb Jahren die Hintergründe des Anschlags untersucht. In dem Apartment in der Conollystraße 31 gab es demnach gar keinen Fernseher und auch kein Radiogerät, zeigen Quellen, die die Historiker Adrian Hänni, Dominik Aufleger und Lutz Kreller vom Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) ausgewertet haben.

Der Befund irritiert, schließlich galten die Münchner Spiele als das erste weltweit via Satellit live und in Farbe übertragene Fernsehereignis. Auch TV-Geräte waren im Olympischen Dorf weit verbreitet, etwa in den Gemeinschaftsräumen. „Fernseher gehörten jedoch nicht zur Standardeinrichtung der Schlaf- und Wohnräume im Männerdorf“, schreiben die Historiker in einem online publizierten Aufsatz (nachzulesen unter www.aufarbeitung-olympia72.de/forschung). Grundrisse des für den Bau verantwortlichen Architekturbüros zeigten, dass auch gar keine Fernsehanschlüsse vorgesehen waren.

Außerdem haben die Forscher in den Akten des Polizeipräsidiums, die heute im Staatsarchiv München aufbewahrt werden, eine Tatortbefundsaufnahme entdeckt. Auf 25 Seiten notierte die Kripo damals sämtliche Gegenstände in den Räumen, in denen sich die Terroristen mit ihren Geiseln aufhielten. Jeder Kleiderbügel, jede Lampe und sogar eine Chips-Packung wurden akribisch notiert. Ein Fernseher ist nirgends erwähnt. Er findet sich auch nicht auf den Tatortfotos der Spurensicherung.

„Ob die Täter Fernseher hatten oder nicht, hatte vermutlich keinen direkten Einfluss auf die Abläufe“, sagt IfZ-Direktor Andreas Wirsching. „Dennoch ist es ein Beispiel für ein sehr populäres Narrativ, das jahrzehntelang schlicht nicht hinterfragt wurde.“

Warum konnte sich die Legende so lange halten? Dazu gibt es mehrere Hinweise: Schon damals fragten sich offenbar Sportler, die im Olympischen Dorf vor dem Fernseher saßen, ob die Attentäter das auch sehen konnten. Außerdem drangen tatsächlich Polizisten in den ABC-Senderaum ein und forderten, die Übertragung abzubrechen. Sie taten dies jedoch nicht aus Sorge, die Palästinenser könnten mitsehen. Sondern weil sie generell der Meinung waren, Live-Publikum bei einem derart schwierigen Einsatz sei problematisch.

Als dann die Polizisten in ihren Trainingsanzügen gegen halb fünf Uhr am Nachmittag des 5. September auf den Dächern des Olympischen Dorfes erschienen, gefährdeten sie eine fast zeitgleich losgeschickte Delegation, die von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher angeführt wurde und Verhandlungen mit den Terroristen über die Verlängerung eines Ultimatums führen sollte.

Deshalb wurden die (ohnehin mit der Situation überforderten) Polizisten schnell wieder abgezogen – nicht etwa, weil die Attentäter sie im TV sahen.
DIRK WALTER

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