Hinter jeder Tür ein anderes Schicksal: Andrea Pfaff ist ambulante Pflegekraft im Münchner Westen. © Marcus Schlaf
München – Als Andrea Pfaff morgens in ihr Caritas-Auto steigt, prasselt der Regen gegen die Scheibe. Regen heißt, dass der Verkehr langsamer fließt. Sie wird mehr Zeit brauchen auf ihrer Route. Von der Uhr lässt sich Pfaff nicht hetzen – etwas anderes treibt sie mehr an: Sie weiß, wie sehr sie in einigen Wohnungen erwartet wird. Es ist 8.30 Uhr. Bis 13 Uhr wird sie unterwegs sein. Eventuell auch länger, so genau weiß sie nie, was sie erwartet. Zum Alltag einer ambulanten Pflegekraft gehört Unvorhersehbares genauso wie ein guter Plan.
Die Tourenplanung für die insgesamt 15 Mitarbeiter des Caritas Pflegediensts im Münchner Westen hat sie morgens in der Sozialstation bekommen. 150 Patienten werden von Pfaff und ihren Kollegen versorgt. Nicht jeder braucht jeden Tag Hilfe, zu einigen muss der Pflegedienst aber viermal täglich kommen.
Andrea Pfaff sieht in ihrem Diensthandy, wer heute ihr erster Patient ist. Hans Mühl* – ihn und seine Frau Marianne kennt sie seit sechs Jahren. Er liegt noch im Bett. Seit einer Erkrankung vor einigen Jahren kann er nur noch eingeschränkt laufen, beim Duschen braucht er Hilfe. Deshalb kommt der Pflegedienst zweimal die Woche. Marianne Mühl kommt gerne mit ins Bad, während Pfaff ihrem Mann beim Duschen hilft. Denn für die beiden fühlt es sich fast so an, als wäre eine Freundin zu Besuch. Was Mühl noch selbst kann, macht er selbst, Andrea Pfaff ist nur zur Unterstützung an seiner Seite. „Der Pflegedienst bedeutet für uns Sicherheit“, sagt Marianne Mühl. Und ihr Mann fügt hinzu: „Bei uns waren schon Menschen aus der ganzen Welt.“ Manche waren noch sehr jung, manche schüchtern. „Alle waren nett.“ Nach knapp einer halben Stunde trägt Andrea Pfaff in eine blaue Mappe ein, was sie gemacht hat. Neben die Mappe hat Marianne Mühl eine kleine Süßigkeit für Pfaffs Kinder gelegt. „Macht sie jedes Mal“, sagt Pfaff lächelnd.
Dann geht‘s weiter. Kurz nach 9, ihr nächster Stopp: Herr Schachtner, 99, ehemaliger LMU-Professor, versorgt sich größtenteils selbst. Aber er kann sich den Pflegedienst leisten und ist froh, einen gefunden zu haben – falls er irgendwann mehr Unterstützung braucht. „Würden Sie mir meinen Rücken eincremen?“, fragt er. Bei Herrn Schachtner braucht Pfaff heute nicht mal eine Viertelstunde. Sie holt ihm noch zwei Wasserflaschen aus dem Keller – damit er genug trinkt. Auch den Müllbeutel nimmt sie mit raus. „Damit sind Sie für heute entlassen“, sagt Schachnter und lacht. Der Besuch vom Pflegedienst macht ihm immer gute Laune.
Als Pfaff wieder ins Auto steigt, ist es kurz vor halb 10. Sie macht ein weiteres Häkchen auf der Patientenliste in ihrem Handy. Und schaut nach, wer der Nächste ist. Es geht zu Herrn Wiesner. Dort wird sie mehr Zeit brauchen. Herr Wiesner hat den höchsten Pflegegrad. Er und seine Frau haben eine 24-Stunden-Pflegekraft, die hat aber heute frei. Andrea Pfaff lässt eine kleine Wanne mit warmem Wasser volllaufen und wäscht Herrn Wiesner in seinem Pflegebett. Dafür fährt sie es auf Hüfthöhe hoch. „Wenn ich das nicht mache, merke ich das abends im Rücken.“ Während sie Herrn Wiesner Stützstrümpfe anzieht, erzählt er von dem Hund, den er früher hatte. Andrea Pfaff nimmt sich Zeit. Obwohl sie weiß, dass heute noch einige Patienten auf ihrer Liste stehen, die sehnsüchtig auf ihre Morgendusche warten. Manche leben allein, für sie ist der Besuch vom Pflegedienst der Höhepunkt des Tages.
Früher war Pfaff Friseurin, hatte es häufig mit nörgelnden Kunden zu tun. Deshalb entschied sie sich vor 20 Jahren für eine Pflegeausbildung. Sie hat es nie bereut. „Bei der Arbeit mit den Menschen geht mir jeden Tag das Herz auf“, sagt sie. Viele ihrer Patienten hätten gute Gründe, unzufrieden zu sein. Meist begegnet ihr aber Herzlichkeit.
Mit einem Zweitschlüssel sperrt sie um Viertel nach 10 die Haustür von Peter Kramer auf. Er leidet an Multipler Sklerose, liegt im Bett. Seine Frau ist in der Arbeit. Auch er braucht Andrea Pfaffs Hilfe beim Waschen und Anziehen. „Wie war Ihre Nacht?“, fragt die 41-Jährige. Kramer ist kein Mensch, der viel klagt. Lieber unterhält er sich über die Welt außerhalb seiner Wohnung. Früher hat er im Finanzamt gearbeitet. Er konnte Pfaff schon wertvolle Tipps für ihre Steuererklärung geben.
Die 41-Jährige hat nur wenige Minuten im Auto, um sich auf den nächsten Patienten einzustellen. Zeitdruck, sagt sie, habe sie nur, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Wenn jemand gestürzt ist zum Beispiel. Hin und wieder muss sie einen Notarzt anrufen, einmal hat sie einen Patienten tot in der Wohnung gefunden. Sie könne auch mit solchen Situationen umgehen, sagt sie.
An diesem Vormittag erwartet sie nichts Unvorhergesehenes. Es ist kurz vor 11, als sie bei Frau Jürgens ankommt, die wartet im Nachthemd auf sie. Auch sie braucht Hilfe beim Duschen. „Entschuldigen Sie, dass es heute später geworden ist“, sagt Andrea Pfaff. Frau Jürgens hat einen amputierten Zeh, Pfaff kontrolliert die Wunde. „Wie geht es Ihrer Familie?“, fragt die Seniorin sie währenddessen. Wieder notiert Pfaff alles in der Mappe, wieder macht sie im Handy ein Häkchen, sodass der Pflegedienstleiter weiß, bei wem sie gerade ist. Die vorletzte Station ist heute Frau Peter. Sie liegt noch im Bett, schläft immer gerne lang. Deshalb ist es für sie nicht schlimm, wenn Andrea Pfaff erst gegen Mittag kommt. Bevor sie sich im Büro um E-Mails und die Dokumentation kümmern kann, fährt Andrea Pfaff noch zu Frau Sommer, die Seniorin ist dement. Für sie nimmt Pfaff sich besonders viel Zeit. „Mir ist wichtig, dass alles in einer schönen Stimmung passiert“, sagt sie. „Sie haben ein schönes Nachthemd an“, sagt sie zu Frau Sommer, als sie die alte Dame ins Bad führt. Frau Sommer sagt nicht viel, aber sie lächelt oft. Heute hat sie einen guten Tag, sie erkennt Andrea Pfaff, versteht, dass sie ihr beim Waschen helfen will. So einfach ist es nicht immer.
Als ambulante Pflegekraft braucht man Geduld, viel Ruhe – auch wenn die Uhr tickt. Hinter jeder Haustür steckt eine andere Lebens- und Krankheitsgeschichte. Oft bewundert die 41-Jährige, wie Menschen mit Schicksalsschlägen und Hilflosigkeit umgehen. „Danke schön. Sie haben das wunderbar gemacht“, sagt Frau Jürgens, nachdem Andrea Pfaff ihr beim Duschen geholfen hat. Andrea Pfaff bekommt viel Dankbarkeit für das, was sie tut. Genau das hat sie in ihrem früheren Beruf vermisst. *ALLE PATIENTENNAMEN GEÄNDERT