Die Wetterforscher über den Wolken

von Redaktion

Klimaberater Lothar Bock mit Gletscher-Fotos.

Die Meteorologen schliefen in der kleinen Station bis 2018 auf einem Klappbett.

Die ersten handschriftlichen Aufzeichnungen auf der Zugspitze stammen aus dem Jahr 1900.

Arbeitsplatz direkt unter den Wolken: Stationsleiter Julian Merker misst die Niederschlagsmenge auf dem Dach der Wetterstation: 1,6 Zentimeter. Aussicht auf der Zuspitze an diesem Tag: null. © Andreas Mayr (4)

Garmisch-Partenkirchen – Georg Demmer wird die Nächte über den Wolken nie vergessen. Wenn die letzten Touristen mit der Seilbahn ins Tal zurückgekehrt waren und die Sonne bereits am Horizont versunken war, stieg er manchmal die schmale Holztreppe aufs Dach der Wetterstation nach oben. Heute ist sie mit modernster Technik ausgestattet, alles summt und brummt vor sich hin. Damals, in den 70ern, als Demmer seine ersten Sommer und Winter auf der Wetterstation der Zugspitze erlebte, war es hier nachts mucksmäuschenstill. Dann stand er da oben, die Sterne so hell, die Nacht so leise. „Es war herrlich“, sagt er.

Die Meteorologen, die seit 125 Jahren auf Deutschlands höchster Wetterstation arbeiten, werden mit den schönsten Sonnenauf- und untergängen belohnt. Dafür müssen sie aber auch so manchen Orkan und Schneesturm aushalten. Demmer erinnert sich an Tage, an denen der Wind mit 200 km/h gegen das Gebäude gepeitscht hat. „Die ganze Bude hat gezittert“, erzählt er. Angst hatte er nicht, er wusste ja, wie viele Stürme und Gewitter die Wetterstation schon ohne Schäden überstanden hat. Aber eine ordentliche Portion Ehrfurcht gehörte zu solchen Tagen schon dazu. Es ist ein Arbeitsplatz, an dem Rekorde gesammelt werden: minus 35,6 Grad (14. Februar 1940), 335 km/h Windgeschwindigkeit (12. Juni 1985), 8,30 Meter Schnee (2. April 1944).

Seit einigen Jahren ist der 70-Jährige im Ruhestand. Aber gestern ist er mal wieder in die Seilbahn gestiegen und auf den Gipfel gefahren. Der Anlass war ein besonderer: Die Meteorologen des Deutschen Wetterdienstes haben den 125. Geburtstag der Wetterstation gefeiert. Ein paar Tage vor dem eigentlichen Termin. Offiziell wurde die Wetterstation am 19. Juli 1900 eröffnet. Der erste Wetterbeobachter war ein Mann namens Joseph Enzensberger. Und er verbrachte im ersten Winter sieben Monate am Stück dort oben. Der Proviant ist für ihn ab Herbst mit Pferden, Eseln und Trägern auf den Gipfel gekarrt worden – eine Seilbahn gab es schließlich noch nicht. Und natürlich keine moderne Technik. „Die größte Pionierleistung waren damals die monatelangen Entbehrungen, die die Wetterbeobachter in Kauf genommen haben“, sagt Julian Merker, Leiter der Wetterstation.

Die handschriftlichen Aufzeichnungen von Joseph Enzensberger sind noch gut erhalten. Fein säuberlich hat er die Wetterdaten in Büchern notiert. Aber auch einige persönliche Augenblicke sind von seinem Zugspitzwinter überliefert. „Er hatte die Einsamkeit unterschätzt“, erzählt Demmer. Besonders am Weihnachtsabend war sie erdrückend. Dann klopfte es an der Tür. Ein Bergsteiger aus Garmisch hatte den schweren Aufstieg angetreten, um dem Meteorologen ein kleines Weihnachtsbäumchen zu bringen. „Enzensberger berichtete später, er habe in dem Moment geheult wie ein Schlosshund.“ So nah am Himmel sind die Emotionen manchmal noch etwas größer als im Tal.

Julian Merker war der letzte Meteorologe, der eine Nacht hier oben verbracht hat. Seit sieben Jahren wird die Wetterstation automatisiert betrieben. Die Wetterprofis werden da oben aber immer noch gebraucht – nur nicht mehr in 24-Stunden-Schichten. Merker steht auf dem Dach der Station. Eiskalt bläst ihm der Wind um die Ohren, während er aus einem silbernen Gefäß das Wasser in ein Messglas umfüllt, um die Niederschlagsmenge zu messen. 1,6 Zentimeter in den vergangenen drei Stunden. „Nicht viel“, sagt er. „So viel kommt bei einem Gewitter manchmal in wenigen Minuten zusammen.“ Gewitter hat er hier oben fast genauso viele erlebt wie wunderschöne Sonnenaufgänge. „Wenn man am Fenster steht und sieht, wie der Blitz einschlägt, geht einem das durch und durch“, sagt er. Obwohl er natürlich weiß, dass er hier oben gut geschützt ist, die Station ist wie ein faradayscher Käfig gebaut.

Heute müssen die Meteorologen hier oben noch Neuschnee und Niederschlagsmenge per Hand messen. Auch Wolken können menschliche Augen besser klassifizieren. Und vor allem müssen sie sich um die Geräte kümmern. Die sind so sensibel, dass Frost nur ganz vorsichtig per Hand entfernt werden kann. Und das ist auch im Sommer nötig. Erst vergangene Woche musste Merker oben auf dem Dach mal wieder Schnee schaufeln.

Die Wetterdaten, die auf der Zugspitze seit 125 Jahren bis auf eine dreimonatige Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs täglich gesammelt werden, waren damals bahnbrechend. Meteorologen konnten damit Phänomene im Hochgebirge besser verstehen – Föhnstürme, Lawinen oder Gewitter. Und noch heute sind die Daten sehr wichtig, um Wetter- und Klimamodelle einschätzen zu können und vor Extremwetterlagen zu warnen. Sie werden natürlich nicht mehr wie damals telefonisch an den Wetterdienst im Tal weitergeleitet, sondern in den Computer eingespeist. Nicht nur die DWD-Zentrale in Offenbach greift darauf zu, sondern Meteorologen und Klimaforscher auf der ganzen Welt, erklärt Lothar Bock, Klimaberater des Wetterdienstes. „Die Veränderungen des Klimas lassen sich nur anhand von Daten darstellen, die über einen sehr langen Zeitraum möglichst am selben Standort und unter einheitlichen Messkriterien gewonnen werden.“

Die Klimaforscher machen aus den Daten Diagramme, eines hält Bock gerade in der Hand. Es zeigt die Anzahl der Tage mit Temperaturen über 10 Grad auf dem Gipfel. Früher waren es kleine Balken, inzwischen sind sie groß – vor allem der Balken des Jahrhundertsommers 2003. Um die Folgen zu sehen, braucht es nicht mal Diagramme. Lothar Block hat vier Fotos des Schneeferner Gletschers zusammengestellt. Das älteste ist von 1910, das jüngste von 2022. Von dem gewaltigen weißen Riesen ist nur noch ein kleiner Rest übrig geblieben. Und auch der wird in ein paar Jahren verschwunden sein.

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