Forscher untersuchen die Hinrichtungsakten.
Zu Abschiedsbriefen aus der NS-Zeit forschen J. Holzapfel, F. Azoulay, A. Münster und B. Grau (v.l.). © Oliver Bodmer (2)
Ein letztes Lebenszeichen vor der Hinrichtung: „Mein Erdenwallen ist zu Ende. Mein Lebenstraum ist ausgeträumt“, schreibt der zum Tode verurteilte Nikolaus Segota im Jahr 1945 an seine Freundin Anna aus der Haft in Stadelheim. © Staatsarchiv München
München – Nikolaus Segota bringt bewegende letzte Worte zu Papier, bevor er am nächsten Morgen hingerichtet wird: „Nur eine Träne weine nur, wenn sie mich ins Dunkel tragen, dann lache wieder und hör mich sagen: Ich bin ja immer noch bei Dir!“ Segota ist 1945 wegen Diebstahls zum Tode verurteilt worden. In Stadelheim wartete er damals auf den Gang zur Guillotine und schrieb ein paar Stunden vorher einen letzten Brief an seine Freundin Anna. Die Haftanstalt gehörte während des Nationalsozialismus zu den Hauptorten des NS-Unrechts in München. Über 1000 Menschen wurden hier bis 1945 hingerichtet.
Sie hatten das Recht, vor ihrem Tod noch an Angehörige zu schreiben, doch über 50 Abschiedsbriefe wurden von der damaligen Gefängnisleitung zurückgehalten. Zum Teil, weil sie das System oder die Anstaltsleitung kritisierten. Zwei 24-jährige Franzosen richteten ihre letzten Worte direkt an den Gefängnis-Direktor: „Herr Diktator/Direktor (nicht klar lesbar), aus dem Gefängnis sprechen hier Franzosen zu Ihnen. In Ihrem Land tötet man Menschen, nur weil sie stehlen, aber die gaullistische Armee wird siegen – und uns rächen. Sie können diesen Brief an Hitler schicken und ihm sagen: alle Franzosen scheißen auf euch.“
„Das Private ist immer auch politisch“, sagt Bernhard Grau, Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns. Die Briefe finden sich in 844 sogenannten Hinrichtungsakten, die seit 1975 im Staatsarchiv München für wissenschaftliche und private Recherchen frei zugänglich aufbewahrt werden. Die Staatlichen Archive Bayerns und das größte Archiv über Opfer und Überlebende des Nationalsozialismus,die Arolsen Archives, starten nun in Sachen Abschiedsbriefe eine Kooperation.
„Zum Teil gelingt es uns nach all den Jahren noch, Familien mit unserer Arbeit zusammenzuführen“, berichtet Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. „Unsere Aufgabe ist es heute, die Adressaten der Briefe und die Angehörigen europaweit zu suchen, um den zu Unrecht Verurteilten ihren letzten Wunsch zu erfüllen, denn das wurde damals nicht gemacht. Für die Familien kann das ungeheuer wichtig sein.“
Die meisten der in Stadelheim hingerichteten Frauen und Männer, von denen Abschiedsbriefe überliefert sind, stammten aus Deutschland. Menschen aus Polen, Frankreich, Tschechien und weiteren europäischen Ländern zählen ebenfalls zu den Opfern. Sie waren zwischen 20 und 81 Jahre alt. Die Vorwürfe lauteten etwa „Herabsetzung des Deutschtums“ oder „Äußerungen gegen den Nationalsozialismus“. Andere wurden ihres Glaubens oder politischen Engagements wegen verfolgt. Viele ihrer Abschiedsbriefe mussten erst entziffert oder übersetzt werden. „In Polen haben unsere Freiwilligen schon intensiv gesucht und wir stehen kurz vor der Kontaktaufnahme mit den Familien.“ Was die Arbeit erleichtert, ist, dass in der Regel die Adressen der Familien auf dem Brief standen. Gesucht wird auch mit Sozialen Medien.
Kommende Woche werden sechs Schauspieler der Münchner Kammerspiele aus den Briefen der Häftlinge vorlesen. „Daraus werden Filme entstehen, die bei uns auf der Website stehen“, sagt Anke Münster von Arolsen Archives. „Die Briefe werden nicht namentlich veröffentlicht, aber alle, die bei uns anfragen, können die Akten einsehen“, stellt Julian Holzapfel, der Leiter des Staatsarchivs München, klar.
Nur hatten die Verwandten der Hingerichteten meist keine Ahnung, wo sich ihre Angehörigen befanden und wo sie gestorben sind. Viele waren Zwangsarbeiter und mit der Verschleppung verlor sich ihre Spur. GABRIELE WINTER