Hier wacht der Sensenmann

von Redaktion

Die Stiftspfarrkirche von Altötting.

Die Kirchenpflegerin Andrea Schweer läuft durch die Arkaden der Gnadenkapelle, die sich links von der Kirche befindet.

Der heimliche Star: Der „Tod vo Eding“ schwingt seine Sense. Der Takt erinnert der Legende nach daran, dass alle zehn Sekunden ein Mensch auf der Welt stirbt. © Oliver Bodmer (3)

Altötting – Man muss sich schon recken, um ihn zu sehen, den 50 Zentimeter kleinen Knochenmann. Er steht gleich neben der Eingangstür der Stiftskirche St. Philipp und Jakob in Altötting auf einer Schrankuhr und schwingt in sieben Metern Höhe die Sense im Zehn-Sekunden-Takt. Fast jedes bayerische Kind wurde nach dem Besuch der Wallfahrtskapelle hierher geschleift, um die schaurige Mär erzählt zu kriegen: „Bei jedem Sensenschlag stirbt ein Mensch!“ Statistisch unhaltbar, weltweit gibt es in zehn Sekunden 1000 Todesfälle.

„Anatomisch stimmt bei dem Skelett auch einiges nicht“, moniert Andrea Schweer, Kirchenpflegerin der Stiftspfarrei. „Das Becken sitzt viel zu hoch, die Schulterblätter fehlen.“ Doch sie weiß, dass die aus dem 17. Jahrhundert stammende Uhr, die in jener Zeit der Pestepidemien in die Kirche gestellt wurde, der heimliche Star Altöttings ist. Er soll die Menschen an die Endlichkeit des Lebens erinnern. „Aber auch daran, dass der Mensch im Tod die Erlösung findet.“

Dass Schweer als Frau an die Spitze der Kirchenverwaltung des besucherstärksten Wallfahrtsortes Deutschlands gewählt wurde, mutet an wie eine kleine Revolution. „Es sind nur Männer in Kirchenverwaltung, die mich gewählt haben, aber ich bin Juristin und habe beruflich mit Geld zu tun“, sagt sie. „Die Vermögensverwaltung ist eine meiner wichtigsten Aufgaben.“ Die Sonne taucht die bunten Altäre in der Stiftskirche durch die hohen Fenster in weiches Licht. Nebenan liegt der Kreuzgang – ein Labyrinth aus Kapellen und Gruften. Die Tilly-Gruft will Schweer nicht betreten: „Mein Mann ist Protestant“, erklärt die gebürtige Duisburgerin, die in Dingolfing aufwuchs und in Passau Jura studierte. Graf Johann T’Serclaes von Tilly war im 30-jährigen Krieg Feldherr der katholischen Liga und befehligte unter anderem die Belagerung Magdeburgs, bei der 20 000 Menschen starben. Plündern, Morden, Vergewaltigen waren für Protestanten wie Katholiken damals Teil der Kriegsführung. In der Gruft steht Tillys Sarg. Durch ein Fenster kann man seinen Schädel sehen, der einst wohl zur Mumifizierung aufgesägt wurde.

Schweer tritt aus der Stiftskirche und überquert den Kapellplatz. Links liegt die Basilika von 1912, die 8000 Pilger fasst. Schweer erzählt vom diesjährigen 1. Mai. „Da wird das Gnadenbild von der Kapelle in die Basilika getragen, der Stadtprälat trägt es unter einem Baldachin, den heuer erstmals der Frauenbund getragen hat. Zuvor taten das immer vier Herren der Marianischen Männerkongregation.“ Es gab Getuschel. Schweer: „Ein zustimmendes Raunen.“ Der Bischof habe geschmunzelt. Revolutionen finden in der katholischen Kirche still im Kleinen statt.

Die neu gestaltete Schatzkammer mit dem Wahlfahrtmuseum zeigt, dass Altötting seit jeher mit Spenden überhäuft wurde, auch wenn heute das „Goldene Rössl“, ein funkelndes Marienaltärchen, nicht zu sehen ist. „Wir sind im Gegensatz zu anderen Pfarreien schon gesegnet“, so Schweer. Und dann schauen wir in die 1300 Jahre alte Gnadenkapelle. Tiefschwarz vom Kerzenrauch der Jahrhunderte sind die Wände mit den Wittelsbacher-Urnen wie der Könige Ludwig I. und II. Die Monarchen wollten auch im Tod mit dem Herzen der schwarzen Madonna nahe sein. Menschen beten tief im Rosenkranz versunken. Draußen lächelt die Kirchenpflegerin: „Das Schöne an Altötting ist: Ob traditionell oder modern, jeder kann hier seinen Glauben auf seine Art ausüben.“

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