Paukenschlag an der Civetta

von Redaktion

Vor 100 Jahren: Erstbesteigung durch Emil Solleder und Gustel Lettenbauer

Gustel Lettenbauer hörte mit dem Klettern auf.

Emil Solleder stürzte 1931 in den Tod.

Wie Orgelpfeifen erheben sich die Felssäulen an der Civetta. © Archiv (3)

München – Am 7. August 1925 schreiben zwei Münchner Kletterer Alpingeschichte, als sie in den Dolomiten die „Wand der Wände“, die 1100 Meter hohe Nordwestwand der Civetta erstmals auf einer direkten Route durchsteigen. Emil Solleder und Gustel Lettenbauer, Jahrgang 1899 und 1900, bilden die berühmt gewordene Seilschaft, deren kühne Tat ein Meilenstein war. Für Spitzenkletterer ist sie bis heute ein „must do“.

„Civetta-Nordwest“. Was für eine Wand, die sich unwirklich hoch über dem Talboden des Cordevole erhebt. Gelb, grau, schwarz und rötlich schimmern die Felspfeiler der gewaltigen Wand, die einem Orgelprospekt ähnelt. Eines der eindrucksvollsten Dolomitenbilder!

Emil „Zacke“ Solleder war Maschinenbauer und Schlosser. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte viel Not im Land. 1921 – es war die Zeit der legendären mittellosen Bergvagabunden – beschließt er, seinen Traumberuf Bergführer anzustreben. Dafür verdingt er sich einige Jahre lang als Helfer auf alpinen Schutzhütten. 1925 erhält er die Autorisierung zum Bergführer und wird sofort zu einem der gefragtesten seiner Zunft. Denn 1925 wird gleich sein großes Jahr. Als Seilpartner für sein Civetta-Projekt wählt er seinen Schwabinger Freund Gustel Lettenbauer. In erstaunlichen 15 Stunden kämpfen sie sich ohne ein Wandbiwak durch die unübersichtliche Riesenwand. Mit ganzen zwölf Schlaghaken, die Lettenbauer persönlich angefertigt hatte, „weil ich den anderen nicht getraut habe“. Mit zerschundenen Händen, erschöpft und in völliger Dunkelheit erreichen sie den Gipfel.

Ihre Tour im Schwierigkeitsgrad 6 wird meist nur die „Solleder“ genannt, weil Emil der Star der Szene und vielleicht der beste Kletterer seiner Zeit war. Doch das wird der tatsächlichen Kletterleistung nicht gerecht: Bis zum feuchten „Wasserfallkamin“ oberhalb der Wandmitte hatten sich die beiden beim Vorstieg regelmäßig abgewechselt. Dort war Solleder einmal gestürzt und hatte sich an der rechten Schulter verletzt. Daraufhin übernahm Lettenbauer das scharfe Ende des Seils allein und führte die Tour erfolgreich zu Ende.

Nur sechs Tage vor seinem Paukenschlag an der Civetta hatte sich Emil Solleder eine weitere berühmte Dolomitenwand geschnappt, und zwar die ebenfalls extrem schwierige Nordwand der Furchetta in den Geislerspitzen. Solleder hat sich als Seilpartner immer die Besten ausgesucht: An der Furchetta war das der aus Dresden stammende Fritz Wießner, der später zu einem der berühmtesten deutschen Bergsteiger werden sollte. Den dritten Streich in seiner großen „Dolomiten-Trilogie“ ließ Solleder am 9. September 1926 folgen, als er mit dem Rosenheimer Kletterer Franz Kummer die Ostwand des Sass Maor in der Palagruppe durchstieg. Die drei Wände waren das Nonplusultra der zwanziger Jahre. Andere große Alpenwände wie Große Zinne, Piz Badile, Eiger und Grand Jorasses wurden erst in den 1930er-Jahren erobert.

Klettern war damals extrem gefährlich. Öfters hat dabei der Tod ums Eck geschaut. Es gab keine hochwertigen Seile, mobilen Klemmgeräte, Bohrhaken und verlässlichen Wetterberichte. Auch ein Rückzug aus einer Wand war dadurch äußerst riskant. Gustel Lettenbauer hat 1929 mit dem Klettern abrupt aufgehört, nachdem ein Freund abgestürzt war: „Meine Familie hätte darunter gelitten“, sagte er zur Begründung. Er übersiedelte 1939 nach Erlangen, gründete dort einen Betrieb und wurde 81 Jahre alt.

Emil Solleder machte als Bergführer weiter. Am 27. Juli 1931 stürzte er an der Meije in der französischen Dauphiné in den Tod, als ihm ein Abseilblock herausbrach. Unter Solleders Erstbegehungen ist auch die „Fahrradlkant’n“ im Wettersteingebirge (Grad 4-5) ein Klassiker, der bei Kletterern der gemäßigten Art äußerst beliebt ist. Unbekannte Spaßvögel haben dort schon vor Jahrzehnten ein Fahrrad in die sechste Seillänge hinaufgehievt.

Auch Solleders Rosenheimer Seilkamerad Franz Kummer fand in den Bergen früh den Tod. Er ist 1927 an der bekannten „Schleierkante“ abgestürzt, nur wenige hundert Meter entfernt vom Ort seines größten Erfolgs am Sass Maor.

Allein Fritz Wießner wurde alt und zu einer Legende des Alpinismus. 1929 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus und wurde dort zum Pionier der Freikletterbewegung. 1939 erreichte er am schwierigsten Achttausender K2 eine Höhe von 8400 Metern und wurde erst dicht unterm Gipfel zur Umkehr gezwungen. Erst 1950 wurde erstmals ein Achttausender bestiegen. Wießner diente während des Krieges in der US-Army, besuchte aber oft die Alpen und seine Kletterheimat im Elbsandsteingebirge. RAINER BANNIER

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