Der Felssturz im Nationalpark vor ein paar Tagen. © Facebook
Er verbringt gerade viel Zeit am Telefon: Toni Wegscheider von der Alpinen Auskunft des Alpenvereins. © Kilian Pfeiffer
Berchtesgaden – Das Telefon läutet. „Alpine Auskunft, der Toni“, meldet sich Toni Wegscheider. Ruhig, unaufgeregt, als hätte er alle Zeit der Welt. In Wirklichkeit ist das nicht so. Wegscheider nimmt die Anrufe für die Alpine Auskunft der Sektion Berchtesgaden des Deutschen Alpenvereins entgegen. Kaum legt er auf, klingelt es erneut. Seit dem gewaltigen Felssturz im hinteren Wimbachtal im Nationalpark Berchtesgaden bleibt ihm kaum eine Minute zum Durchatmen.
Anfang August hatten sich im Bergsteigerdorf Ramsau rund 4000 Kubikmeter Gestein aus der Wand gelöst und zwei der wichtigsten Routen im Nationalpark blockiert. Die Wege mit den Nummern 419, 411 und 421 sind seither gesperrt. 20 Wanderer mussten per Hubschrauber aus dem Gebiet geholt werden, einer wurde leicht verletzt. Besonders betroffen ist der Steig zwischen Wimbachgrieshütte und Trischübelsattel – ein beliebter Übergang ins Steinerne Meer für Touren zum Kärlingerhaus oder Ingolstädter Haus. Seitdem ist die Verunsicherung groß, denn viele Bergsteiger haben ihre Sommerunterkünfte längst gebucht. Entsprechend groß ist der Beratungsbedarf.
„Die meisten wollen wissen, ob sie ihre gebuchten Hütten noch über den geplanten Weg erreichen können“, sagt Wegscheider. Wenn nicht, sucht er nach Alternativen. Er fragt nach Kondition, Bergerfahrung, ob Kinder mit dabei sind. Oft genügt ein kleiner Schwenk: etwa der Zustieg von der Königssee-Seite über die Saugasse hinauf zum Kärlingerhaus. „Da kann man jede Menge tolle Touren basteln“, sagt er – und öffnet schon die nächste E-Mail.
Sein Arbeitsplatz liegt unscheinbar im Kurpark von Berchtesgaden: ein Schreibtisch, Computer, Telefon, Prospekte über Gipfel und Hütten. An den Wänden hängen Bilder aus der Region. Im Mittelpunkt steht das Telefon, das zwischen Mai und Oktober werktags von 16 bis 18 Uhr den Takt vorgibt. Im Winter wird nur einmal pro Woche Auskunft gegeben, jetzt im August hängt Toni Wegscheider fast durchgehend am Hörer. Tausende Anfragen gehen pro Jahr ein – telefonisch, per E-Mail oder persönlich.
Das Büro im Kurgarten ist kein gewöhnliches Infobüro. Hier sitzen Bergführer, Nationalpark-Ranger, Wanderführer – Menschen, die die heimischen Berge wie ihre Westentasche kennen und nicht nur von Karten, sondern aus eigener Erfahrung berichten. Wegscheider passt perfekt in diese Runde. Mitte 40, gebürtiger Berchtesgadener. Seit sieben Jahren macht er den Dienst ehrenamtlich. „Vielleicht nicht alles, aber vieles“ kenne er, sagt er und lächelt. Er duzt jeden Anrufer – wie es unter Bergsteigern üblich ist. „Ich gebe Auskunft. Und manchmal verhindere ich damit vielleicht einen Einsatz der Bergwacht.“
Die Fragen sind so vielfältig wie die Anrufer. Erfahrene Bergsteiger, die wegen des Felssturzes umplanen müssen. Familien, die eine nicht zu schwere Tour mit einer zünftigen Hütteneinkehr suchen. Skurriles ist auch dabei: „Können wir die Hütte kaufen?“ Oder: „Meine Frau will aufs Watzmannhaus – gibt es einen Muli-Transport?“ Wegscheider nimmt jede Frage ernst. Im vergangenen Jahr läutete das Telefon ununterbrochen, als bereits im September der erste Schnee fiel. Oft kommen Anfragen von Leuten, die ihre Touren mit Online-Planern zusammengestellt haben. „Da entstehen manchmal Routen, die so gar nicht gehen“, sagt er. Oder eben nicht mehr, weil der Weg gesperrt ist. Manchmal rufen Bergsteiger buchstäblich „aus der Wand“ an, weil sie nicht weiterwissen. „Es gibt fast nichts, was es nicht gibt.“
Wegscheider ist studierter Biologe, und neben dem Berggehen gilt seine Leidenschaft seit mehr als 20 Jahren dem Bartgeier. 2019 bewies er mit einer Machbarkeitsstudie, dass die bayerischen Alpen ideal für dessen Rückkehr sind. Heute ist er eine der treibenden Kräfte hinter den Auswilderungen im Nationalpark. Auch am Telefon denkt er nicht nur an Höhenmeter und Schwierigkeitsgrade, sondern an die Natur. „Hier ist Kalkgebirge“, erklärt er einer Anruferin, „da gibt es Abschnitte, die bei Nässe besonders gefährlich sind.“
In seinem besten Jahr stand er selbst über 200 Mal in den Bergen. Eine Liste mit Steigen, Seitengipfeln und Tälern, die er noch erkunden will, liegt griffbereit. Die einstigen Geheimtipps sind heute oft bekannt, Social Media hat seinen Teil dazu beigetragen. „Aber es gibt noch genug Wege, die nicht jeder kennt.“
Das Telefon klingelt wieder. Ob der klassische Weg zum Kärlingerhaus noch begehbar sei, fragt eine Stimme. „Nein, der ist durch den Felssturz blockiert. Ihr müsst umplanen – über den Watzmann auf die andere Seite.“ Schiff über den Königssee, dann weiter zu Fuß. Zwei Stunden vergehen so wie im Flug: E-Mails beantworten, Gespräche führen, immer wieder der Felssturz. Für Wegscheider ist das Routine, aber keine Nebensache. „Die Leute wollen jemanden am Telefon haben, nicht nur Informationen im Internet suchen. Das gibt ihnen Sicherheit.“ Dann klingelt es wieder. „Alpine Auskunft, der Toni.“