Ein ungarischer Jude erzählte es meiner Physiotherapeutin. Sie gab die Worte an mich weiter, weil sie meine Vorliebe für ungewöhnliche Sprachbilder kennt. Wer einem anderen Menschen hilft, sagte der jüdische Ungar, lässt im übertragenen Sinn einen Schuh bei ihm oder ihr zurück. Irgendwann im Leben bekommt man seinen Schuh wieder – manchmal ganz unerwartet. Das war es schon. Ich habe versucht, der Bedeutung der kleinen Geschichte auf die Spur zu kommen, die mir immer besser gefällt.
Schuhe sind unverzichtbar – außer zu Hause vielleicht, wo Menschen wie ich sommers mit Vorliebe barfuß oder bei kühleren Temperaturen in Socken herumlaufen. Sonst, draußen, schützen Schuhe die Füße vor Verletzungen und Schmutz. Sie machen möglich, dass ein Mensch kräftig ausschreiten kann und gut vorankommt. Sie lassen sicher und fest auftreten, wenn es nicht gerade schwindelerregende High Heels sind. Ein Glück, dass heutzutage Sneakers eigentlich zu allem passen.
Weil Schuhe so wichtig sind, ist der Gedanke, einen bei anderen Menschen zurückzulassen, eher kontraproduktiv. Außer für Aschenputtel vielleicht, die auf diese märchenhafte Weise ihren Prinzen bekommt. Aber die kleine jüdische Weisheit will keine Romanze in Szene setzen. Es geht um anderes. Wer jemandem wirklich beisteht, lässt einen Schuh zurück. Begnügt sich nicht mit Banalitäten oder Plattitüden nach dem Motto „Kopf hoch“, „wird schon wieder“, „alles halb so wild“.
Hilfe kostet etwas, wenn sie etwas bewirken soll. Es braucht die Fähigkeit, die Probleme und Nöte anderer wahr- und sich ihrer wirklich anzunehmen. Man gibt etwas von sich her: manchmal Geld, immer aber Herz, Verstand und Zeit. Ein Schuh ist weg… Und man bekommt ihn garantiert nicht gleich wieder, denn Helfen bedeutet kein „do ut des“, ich gebe, damit du mir etwas gibst. Es ist keine Anlage oder Investition, die sich rentiert und mit Zins und Zinseszins auszahlt. Und trotzdem ergänzen sich die Schuhpaare immer wieder.
Man bekommt eine freundliche Mail, einen Blumenstrauß oder ein feines Lächeln, endlich das Gespräch zwischen alten Streithanseln, die Beobachtung, dass jemand zuversichtlich einen neuen Weg einschlägt, eine aufkeimende Freundschaft… Über eine deutsch-österreichische Schuhfirma wird gesagt, dass ihre Schuhe wertvolle Unikate sind, die mit großer Leidenschaft und handwerklichem Können hergestellt werden. So möge jeder Schuh sein, den ich bei anderen zurücklasse. Ich arbeite noch dran.