Zu Gast bei der Kanzlerin: Angela Merkel hatte die Vertreter der Spitzenverbände nach Berlin eingeladen – unter ihnen der Brucker Landrat Thomas Karmasin (hinten 3.v.r.). © dpa
Fürstenfeldbruck/Berlin – Es ist genau zehn Jahre her, dass Thomas Karmasin das erste und bisher einzige Mal ins Kanzleramt eingeladen war. Er hatte damit gerechnet, dass sich Angela Merkel eine halbe Stunde Zeit für ihn und die anderen Vertreter der Kommunalen Spitzenverbände nehmen würde, erzählt er rückblickend. Tatsächlich bekamen sie vier Stunden Zeit, um mit der Kanzlerin über die Flüchtlingssituation in ihren Landkreisen zu sprechen.
Die hatte sich in den vergangenen Wochen immer mehr zugespitzt. „Jede Woche kam ein neuer Bus mit Flüchtlingen an“, berichtet Karmasin vom September 2015. Die Unterkünfte waren längst alle voll. Denn schon seit 2014 trafen immer mehr Geflüchtete ein. „Es kam vor, dass die Menschen manchmal Freitagnachmittag mit ihren Koffern vor dem Landratsamt standen“, erinnert sich der Fürstenfeldbrucker Landrat. „Damals konnten wir den Fliegerhorst noch nutzen, es gab auch keine anderen großen Unterkünfte“, erzählt er. Die Turnhallen waren schnell voll. „Zuletzt haben wir sogar über Tiefgaragen nachgedacht.“
Die Not war in allen Regionen groß. Deshalb schrieb der damalige Landkreistagspräsident Christian Bernreiter (CSU) einen Hilferuf an Merkel. Kurz darauf kam die Einladung. Karmasin reiste als Vize-Präsident mit. Außerdem waren der Städtetags-Chef Ulrich Maly (SPD) und der Gemeindetagspräsident Uwe Brandl (CSU) dabei. Ihre Botschaft: „Wir sind am Ende unserer Kräfte.“
Merkel habe mehr zugehört als selbst geredet, erinnert sich Karmasin. Sie machte sich viele Notizen. Und einige Zusagen. Die Rückführung nicht anerkannter Asylbewerber, die schnellere Verteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, finanzielle Hilfen für die Kommunen. Trotzdem kehrte Karmasin alles andere als erleichtert nach Hause zurück. „Merkel hat uns sehr ernst genommen“, sagt er. Aber sie sagte bei dem Gespräch auch, sie wisse nicht, wie das ausgehen werde, wie viele Menschen noch kommen würden. „Das war irritierend.“ Karmasin hatte nicht damit gerechnet, dass die Kanzlerin zugeben würde, selbst keinen Plan B zu haben. Er glaubte ihr, als sie sagte, sie denke Tag und Nacht über Lösungen nach. Er glaubte nach dem Gespräch nicht, dass aus Berlin wirkliche Hilfe für die Situation vor Ort zu erwarten war.
Die Hilfsbereitschaft war damals groß, erinnert er sich. „Aber es gab auch viele Ängste.“ Die habe er von Anfang an sehr ernst genommen. Auch er selbst machte sich Sorgen. Merkels „Wir schaffen das“ war für ihn von Anfang an ein inhaltsleerer Satz, sagt er heute. „Es war schon damals allen klar, dass es nicht reichen wird, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu organisieren.“ Karmasin wusste, es gibt weder auf dem Wohnungs- noch auf dem Arbeitsmarkt Platz für so viele Menschen, auch die Kinderbetreuungsplätze waren schon umkämpft. Zehn Jahre später sagt er: „Die Krise ist noch lange nicht bewältigt.“ In Fürstenfeldbruck gebe es Menschen, die seit 2015 in Unterkünften leben würden und weder Wohnung noch Arbeit finden.
Immer wieder gab es Phasen, in denen weniger Menschen ankamen. Auch seit einigen Monaten ist das so. „Aber die Situation kann sich durch die Krisen auf der Welt sehr schnell wieder ändern“, sagt Karmasin. Und auch jetzt seien die Herausforderungen noch groß. Für viele Unterkünfte sind inzwischen Mietverträge ausgelaufen oder sie müssten saniert werden. Die Integration ist nach wie vor eine Mammutaufgabe. Es sei wichtig, dass die, die keine Bleibeerlaubnis bekommen, wieder gehen. „Um alle anderen müssen wir uns bemühen, damit keine Parallelgesellschaft entsteht.“
Heute ist Karmasin selbst Präsident des Bayerischen Landkreistags. Rückblickend sagt er, seien die Landkreise damals enger zusammengewachsen. „Wir haben gemerkt, wie viel wir erreichen können, wenn wir mit einer Stimme sprechen.“