München – Diesen Satz hört Dagmar Levin immer wieder: „Du musst lernen, dass du den Mund hältst.“ Und jedes Mal antwortet sie: „Das werde ich nicht machen.“ Die 66-Jährige sitzt für die SPD im Stadtrat von Kolbermoor im Kreis Rosenheim, schon seit 2002 ist sie in der Kommunalpolitik aktiv, war sogar mal Dritte Bürgermeisterin. Und ganz oft kriegt sie den Hass der Bürger ab. Geht sie auf eine Veranstaltung, hört sie Sätze wie: „Geh auf d‘Seitn, du fette Schlampn.“ Dazu kommen Mails voller Beschimpfungen, oft anonym. Die löscht sie sofort, aber es bleibt was hängen. „Ich weiß ja, dass ich denjenigen morgen wieder an der Supermarktkasse treffen kann.“ Der Hass, sagt sie, ist unfassbar groß geworden. Sachliche Diskussionen seien fast unmöglich. „Das erschüttert mich.“
Sie erinnert sich noch gut an die Debatten über den Bau eines Krematoriums in Kolbermoor, den sie befürwortete. Zu einer Informationsveranstaltung war ein Experte geladen, der leicht lispelte. Im Publikum bemerkte Dagmar Levin beschämt Gegner des Krematoriums, die sich darüber lustig machten, ihn laut nachäfften. Der Pfarrer, der ebenfalls das Wort erhob, sei niedergebrüllt worden. Dafür bekam ein vermeintlicher Wissenschaftler viel Zuspruch, der die These verbreitete, dass im Umkreis von vier Kilometern um ein Krematorium jeder Bewohner an Krebs sterbe. Das ist natürlich Schmarrn, aber Levin stellt fest: „Immer weniger Menschen wollen die Dinge, die sie hören, auch verifizieren.“ Das schürt wiederum den Hass. Ihr persönlich macht die sogenannte Hate Speech keine Angst, ihre Familie lebt nicht in der Region. Aber sie kennt Kollegen, die sagen: Darauf habe ich keine Lust. Sie werfen hin.
An Politikern in Bayern – egal ob Gemeinderat oder Landtag, egal von welcher Partei – entlädt sich immer mehr Hass. Das zeigen verschiedene Erhebungen. Im Jahr 2023 registrierte die bayerische Polizei 1354 Fälle politisch motivierter Kriminalität gegen Amts- und Mandatsträger. Experten von der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus im Bundeskriminalamt befragten Anfang 2025 Amts- und Mandatsträger im Freistaat: 34 Prozent hatten in den vergangenen sechs Monaten Anfeindungen erlebt. „Mehr als drei Viertel dieser Vorfälle fanden im direkten Kontakt oder schriftlich statt“, heißt es. Und: Es habe auch einen klaren Tätertypus gegeben. Meist männlich, zwischen 40 und 59, und in der jeweiligen Kommune ansässig. Doch nur zehn Prozent der Betroffenen erstatteten Anzeige. Auch Dagmar Levin hat das mal versucht, aber daraus ist nichts geworden. „Vieles fällt unter Meinungsfreiheit.“
Um die Hürde für Anzeigen zu senken, hat das bayerische Justizministerium 2020 ein Online-Meldeverfahren eingeführt. Dort können Kommunalpolitiker Attacken, die sie für möglicherweise strafbar halten, direkt an David Beck, den Hate-Speech-Beauftragten bei der Generalstaatsanwaltschaft München, schicken. Bis Ende Juli gingen darüber 282 Prüfbitten verschiedener Mandatsträger ein. Im ersten Jahr waren es 11 Fälle, 2025 bislang 26. Die meisten Vorfälle gab es 2021 während Corona: 117.
Manchmal folgen auf die Meldungen Strafverfahren. David Beck weiß von einem Fall aus 2024. Ein kommunaler Mandatsträger mit dunklerer Haut meldete folgenden Kommentar aus den Sozialen Medien: „Gehört in den Zoo, ins Affengehege“. Der Verfasser wurde laut David Beck ermittelt und zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen Volksverhetzung verurteilt. In einem anderen Fall habe ein Täter 2020 und 2021 Mails an zahlreiche Empfängerinnen verschickt. Darin Sätze wie „Sie widerliches Stück Scheisse, wie viele von diesen flüchtlingsabschaum sollen wir noch aufnehmen ? Sie dreckige Flüchtlingshure. Wer zahlt dafür?” oder „Wenn eine IRRE und ihre Parasiten ein Land zerstören! Wo bleibt STAUFFENBERGS Nachfolger, der Politiker-Schweine tötet“ oder „Haut den Politikern auf die Fresse !! Stecht Politiker ab Fackel Ihre Häuser ab (…)”. Letztlich wurde der Täter in zwölf Fällen verurteilt – wegen Volksverhetzung, Beleidigung und öffentlicher Aufforderung zu Straftaten. Freiheitsstrafe: ein Jahr und acht Monate auf Bewährung.
Weitere Beispiele gibt es genug. Olaf von Löwis of Menar, Landrat von Miesbach, wurde bei einer Bürgerversammlung von Gegnern einer Flüchtlingsunterkunft attackiert und musste von der Polizei aus dem Saal eskortiert werden. Michael Stolze wurde als Bürgermeister von Markt Schwaben (Kreis Ebersberg) wegen eines geplanten Asylheims so sehr und so häufig angegangen, dass er noch während seiner ersten Amtszeit zurücktrat. CARINA ZIMNIOK