„Obacht, Bayern!“ von Dietlind Pedarnig, Allitera, 480 Seiten, 49 Euro.
Grüße aus der Nebelhornbahn: Eine historische Postkarte aus Bayern.
Bajuwarisches Selbstverständnis: „Mir san mir und schreib‘n uns: uns“. © Allitera (4)
München – Was heute Nachrichten auf dem Handy sind, waren damals Postkarten. In manchen Großstädten wurden Karten siebenmal täglich zugestellt. Rund 30 000 Menschen arbeiteten in der kaiserlich-deutschen Reichspost während des Ersten Weltkriegs, um geschätzt zehn Milliarden Postkarten zuzustellen. Es war bei allen Kriegsgräueln das „goldene Zeitalter“ der Postkarte.
Wir blicken zurück: Ab den 1880er-Jahren gab es zwei Gründe für den Erwerb einer illustrierten Postkarte: entweder um einen Gruß zu verschicken oder um sie zu sammeln. So steht es in „Obacht Bayern!“, einem neuen Buch von Dietlind Pedarnig, in dem die Autorin den Postkarten-Boom in Bayern zur Jahrhundertwende mit vielen humorigen Beispielen beschreibt. Kaufen konnte man die viereckigen Karten etwa bei fliegenden Händlern, die sie in Wirtshäusern oder Volksfesten darboten, in Papiergeschäften, Kunst- und Buchhandlungen. Und schließlich in den boomenden Kiosken, die etwa beim Dampfersteg, im Biergarten oder in der Kirche standen. Auch spezielle Postkarten-Automaten wurden entwickelt und aufgestellt.
Möglich wurde das durch das Aufkommen der Eisenbahn: Ab den 1880ern entwickelte sich Bayern zum Urlaubsparadies nicht nur für die Großkopferten aus dem Norden, sondern auch für Normalverdiener. Die Bayern, vor allem im Alpenraum, setzten von Anfang an voll auf Fremdenverkehr: Wie lässt sich besser werben als mit günstigen Postkarten, die Frau Boddentrop und Herr Juist aus den Bergen oder München an ihre Liebsten nach Hause schickten?
Bavaria sells – auch nach Übersee, wozu auch das 1892 gegründete Schlierseer Bauerntheater beitrug oder auch Festwirte und Musik- und Tanzgruppen. Allesamt im bayerischen Gwand, es wird gejodelt und geplattelt – auf Tourneen im gesamten Kaiserreich. Einige Gastspiele führten gar bis in die USA. Von New York bis Dresden: Ein „echt bayerischer Kostümball“ oder ein „authentisch“ initiiertes Oktoberfest war das Höchste.
Pedarnig schreibt über den Bayern-Boom: „Die erhaltenen Werbepostkarten zeigen zig ,Original Oberlandler-Gruppen‘, unter ihnen (…) die von Georg Ehrengruber und Georg Lang, die auf diese Weise bayerische Musik und ,Lebensart‘ verbreiteten. Ein Klischee wird geboren. Parallel dazu waren die Motive des Münchner Kindls, der Schützenlisl oder eines Masskrugs mit den Initialen HB uneingeschränkt und global als Markenzeichen einsetzbar, verstand man doch auch ohne Worte im Ausland ihren Symbolwert als Qualitätssiegel.“
Und weil der Bayer – Obacht, Klischee! – bauernschlau ist, nutzte er das neue Medium in jeder Beziehung. Von Werbung für Wirtshäuser, Brauereien und Wiesn bis zu der bayerischen Landschaft, vom Hochalpinen bis zu den fränkischen Weinbergen, von Bräuchen und Traditionen bis zu sehenswerten Bauten – und immer wieder dem berühmten Münchner Kindl. Von Soldaten in Parademärschen, jeder einen Masskrug haltend, bis zur „fürsorglichen“ Mutter, die dem Kleinkind Bier einflößt. Überhaupt das Bier: In etlichen Humorkarten wird ein Fetzenrausch thematisiert inklusive Bierleichen etc. – Maßlosigkeit bei der Biermass. Hauptsache, der Gast ist flüssig.
Wichtiger Punkt war auch die Tracht – auch die sollte an Touristen gebracht werden. Seit der Gründung des Königreichs Bayern 1806 versuchten die Wittelsbacher, eine einheitliche Volkstracht zu entwickeln – Stichwort nationale Identität. Einheitlich wurde sie nie, aber der „alpenländische Stil“ setzte sich „bis nach Berlin durch, und man stieg perfekt kostümiert und ausgestattet in Bayern am Bahnhof zur Sommerfrische aus“, steht in „Obacht, Bayern!“ Der Journalist Ludwig Steub stellte fest: „Das längst Befürchtete ist eingetroffen, der Schlag ist gefallen – das bayrische Hochland ist fashionable geworden!“ Geschrieben hat er das 1846.
Mit dem Aufkommen des Massentourismus in Bayern wurden Traditionen ausgehöhlt: wirtschaftlicher Wohlstand auf Kosten des Verlusts der eigenen Identität, so Pedarnig. Weil man Traditionen und Bräuche für den Gast angepasst habe. Schlusswort Otto Julius Bierbaum (1865–1910): „Es gibt überhaupt kein München mehr. Seit 1871 ist diese Stadt langsam, aber sicher, preußisch geworden. Das Bier wird mit jedem Jahr dünner, und wohin man spuckt, spuckt man auf einen Preußen.“