Missbrauch: SOS im Kinderdorf

von Redaktion

Skandal um Gründer schockt Verantwortliche

Schwere Vorwürfe: Hermann Gmeiner, hier 1958 bei der Eröffnung des SOS-Kinderdorfs in Dießen am Ammersee, soll acht Kinder und Jugendliche missbraucht haben. © Ullstein

München – Mehr als hundert Mal ist Hermann Gmeiner für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Doch die Missbrauchsvorwürfe werfen ein völlig neues Licht auf den 1986 gestorbenen Gründer von SOS-Kinderdorf. Die weltweit tätige Hilfsbewegung, die Kinder und Jugendliche unterstützt, deren Eltern sich nicht um sie kümmern können, reagiert mit Entsetzen und Schadensbegrenzung, auch in Deutschland. Von einem „Schock“ sprach Georg Falterbaum, ein Vorstand des Vereins SOS-Kinderdorf Deutschland in München.

Gmeiner wird beschuldigt, in Österreich acht männliche Kinder und Jugendliche sexuell und physisch missbraucht zu haben. Die Vorwürfe seien glaubhaft, Betroffene seien entschädigt worden, hieß es bei SOS-Kinderdorf Österreich. Die Vorwürfe gegen Gmeiner waren der Organisation nach eigenen Angaben bereits seit Jahren bekannt. Sie wurden aber erst jetzt öffentlich gemacht. Außerdem waren in den vergangenen Wochen einige mutmaßliche Übergriffe von Kinderdorf-Mitarbeitern in Österreich durch Medienberichte publik geworden. Auch sie waren zuvor unter Verschluss gehalten worden.

Das erste SOS-Kinderdorf in Bayern (und Deutschland) wurde 1958 in Dießen am Ammersee eröffnet. Mittlerweile gibt es sieben dieser Einrichtungen im Freistaat, in denen derzeit nach Angaben der Organisation mehr als 200 Kinder und Jugendliche in Familien und Wohngruppen betreut werden. 2020 warfen ehemalige Bewohner zwei Mitarbeiterinnen eines bayerischen Kinderdorfs Gewalt und sexuellen Missbrauch vor. Die beiden Frauen hätten „ein Klima der Angst“ erzeugt, um die ihnen anvertrauten Kinder gefügig zu machen. SOS-Kinderdorf Deutschland hat die Vorwürfe von einer unabhängigen Kommission untersuchen lassen – und nachfolgend eine Aufarbeitung von Übergriffen in allen deutschen Kinderdörfern beauftragt. Man sei hier sehr transparent vorgegangen, betont Falterbaum. Einer unabhängigen Kommission zufolge gab es zwischen 1976 und Mitte 2023 knapp 190 Meldungen zu Grenzüberschreitungen. Rund die Hälfte davon waren sexuelle Übergriffe.

Als erste Reaktion auf die Enthüllungen zu Gmeiner schloss der internationale SOS-Kinderdorf-Verband die österreichische Teilorganisation bis auf Weiteres aus. Das Gremium will nun für Vertrauen in das weltweite Engagement der Organisation sorgen. Aufarbeitung sei eine Daueraufgabe, betont Falterbaum. „Es ist kein Thema, das wir abhaken, sondern es wird weitergehen.“ Bei Einrichtungen von SOS-Kinderdorf Deutschland sei auch der Kinderschutz durch personelle Maßnahmen gestärkt worden, und ein Frühwarnsystem sei im Aufbau.

Über den möglichen Imageschaden durch die Vorfälle in Österreich will Falterbaum noch nicht sprechen. Stattdessen müssten die Betroffenen im Fokus stehen. Außerdem will der Kinderdorf-Vorstand seinen Mitarbeitern Mut machen. „Die Idee von SOS-Kinderdorf ist unverändert richtig. Und Hermann Gmeiner definiert als unser Gründer nicht mehr die Arbeit von heute“, sagt er.

In Österreich wurden als Konsequenz auf die Enthüllungen Denkmäler des SOS-Kinderdorf-Gründers entfernt. Kindergärten und Schulen sollen umbenannt werden. In Deutschland will die Hermann-Gmeiner-Schule in Mönchengladbach „demnächst“ darüber entscheiden, ob man sich einen anderen Namen geben soll. Es ist eine Diskussion, die auch in Bayern geführt werden wird. Man werde genau prüfen, wie man mit dem Namen des Gründers umgehe, sagt Falterbaum. Hermann-Gmeiner-Straßen gibt es unter anderem in Dießen am Ammersee und in Tegernheim bei Regensburg. In München befindet sich das Referat für Bildung und Sport am Hermann-Gmeiner-Weg.OSS

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