Der Erdstall von Reichersdorf

von Redaktion

Eine Barbarafigur bewacht den dunklen Gang, der immer enger wird.

Sepp Hatzl am Eingang zum alten Erdstall neben einer Kapelle in Reichersdorf. © THOMAS PLETTENBERG (2)

Reichersdorf – Eine Kirche, ein paar Bauernhöfe, Wald und Wiesen, dahinter das Mangfallgebirge. Nichts deutet darauf hin, dass sich hier in Reichersdorf, ein Ortsteil der Gemeinde Irschenberg, einer der geheimnisvollsten unterirdischen Gänge Bayerns befindet.

„Hier geht‘s runter.“ Neben einer Kapelle am Ortsrand schließt Sepp Hatzl vom Förderverein Kultur und Geschichte in Weyarn eine knarrende Holztür in der Böschung auf. Verwitterte Steinstufen führen in die Unterwelt hinab. Es wird enger und niedriger, die Wände sind direkt ins Erdreich gehauen, rechts und links Abzweigungen, bevor der Gang als Sackgasse endet. Das ist der eigentliche Erdstall, das Gewölbe davor ist erst gut 100 Jahre alt.

„Wir befinden uns im ersten Erdstall, der nach Jahrhunderten des Vergessens wiederentdeckt wurde“, berichtet Hatzl. Am 11. Juli 1640 wollte Bauer Hans Westiner an seinem Hof einen Brunnen graben, als er auf unterirdische Hohlräume stieß. Neben dem Brunnenschacht öffnete sich „ein wunderbahrliche Creuz Grufft“, wie es damals hieß. Neugierige seilten sich mit Fackeln in den 15 Meter tiefen Brunnenschacht ab, über den man den Erdstall erreichte.

„Die Besucher des Stollens berichteten nach dem Besuch, von ihren Rückenleiden geheilt worden zu sein“, erzählt Hatzl. Auch dem Wasser des Brunnens wurde nachgesagt, „krankhen Leuthen und Vieh“ zu helfen. Sogar das Erdreich wirkte Wunder. Hatzl: „Man rieb sich damit ein oder brachte es auf Felder aus, die nicht viel Ertrag brachten.“ Probst Valentin vom Kloster Weyarn ließ 1644 eine Kapelle errichten, von der eine Stiege zum Erdstall gegraben wurde. „Da es für jedes Leiden einen Heiligen gibt, den man um Hilfe bitten kann, wurde für die Kapelle das Patrozinium Allerheiligen festgelegt“, sagt Hatzl.

Doch wozu diente der Erdstall von Reichersdorf ursprünglich? Das ist genauso ein Rätsel wie bei über 700 weiteren unterirdischen Gängen, die in Bayern, Österreich und Böhmen entdeckt wurden – meist unter Bauernhöfen, manchmal unter Kirchen oder Friedhöfen. „Man schätzt sie auf das Mittelalter, von der Jahrtausendwende bis ins späte 14. Jahrhundert“, erklärt Hatzl. Vereinzelte Funde von Scherben, Holz- oder Kohleresten ließen sich datieren. Doch meistens hieß es: „Die Erdställe sind fundleer.“ Früher kursierten Sagen von Zwergen, die dort gehaust haben sollen, weshalb man sie auch „Schrazl-Löcher“ nannte.

War es ein Zufluchtsort nach Überfällen? „Dazu wäre es zu eng gewesen“, so Hatzl. Wurden hier Eigentum oder Nahrung verborgen? Man hätte doch einmal Reste davon finden müssen. Eine Theorie sieht in den unterirdischen Gängen „Seelenkammern“, in denen sich die Seelen toter Angehöriger bis zum Jüngsten Gericht aufhalten konnten. Die Lehre vom Fegefeuer, wo man „gereinigt“ wird, bevor man in das Paradies eingeht, war damals noch unbekannt.

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