Jeder von uns bekommt schon bei der Geburt Rollen zugeteilt. Sind wir männlich oder weiblich, erstgeboren, eines von vielen Geschwistern oder Einzelkind? Allein daraus ergeben sich Aufgaben und Erwartungen, die uns prägen. Im Laufe der Zeit kommen neue Rollen hinzu, manche wählen wir bewusst, andere werden uns durch Lebensumstände aufgetragen. Es sind diese vielen Rollen, die wir wie Bälle in der Luft halten – ständig in Bewegung und darauf bedacht, keinen fallen zu lassen. Doch was passiert, wenn eine Erkrankung wie Demenz ins Leben tritt? Wenn ein Elternteil, das einst versorgt, beschützt und geprägt hat, nun selbst Schutz, Fürsorge und Orientierung braucht? Die Rollen werden auf den Kopf gestellt. Aus dem Kind wird ein pflegender Angehöriger, ein Beistand, ein Verwalter von Alltag, Finanzen und manchmal auch von Erinnerungen.
Diese Rollenumkehr trifft Angehörige meist unvorbereitet. So wie eine Frau aus meiner Angehörigengruppe. Sie begleitet ihre Eltern auf dem Weg mit der Demenzerkrankung, seit ihre Mutter 2019 die Diagnose erhielt. „Mein Vater verdrängt die Krankheit. Er wehrt alle Unterstützungs- und Hilfsangebote, die ich vorschlage, ab. Gleichzeitig stellt er große Forderungen an mich und erwartet, dass ich für meine Mutter und ihn bedingungslos da bin“, sagt sie. Für die Tochter ist es eine Herzensaufgabe, sich um ihre Mutter zu kümmern, aber zugleich ist es herausfordernd, weil ihr Vater ihre Unterstützung nicht zulässt. Sie hat für sich eine Strategie gefunden: sich mit anderen Angehörigen zu vernetzen und auszutauschen. Dabei hat sie gelernt, sich auf Dinge zu fokussieren, die sie für sich tun kann, um mit der Situation klarzukommen.
Das ist ein typisches Beispiel. Die Rolle des pflegenden Angehörigen ist mit großen Erwartungen verbunden – von außen, aber auch von sich selbst. Schnell entsteht das Gefühl, allem gerecht werden zu müssen. Dabei vergessen Angehörige häufig, dass niemand über unbegrenzte Kräfte verfügt. Sich selbst und anderen einzugestehen, dass man nicht alles leisten kann, ist ein wichtiger erster Schritt.
Deswegen ermutige ich, bewusst zu reflektieren: Welche Rollen nehme ich in meinem Leben ein? Welche Erwartungen werden an mich gestellt – und welche setze ich mir selbst? Sich das zu beantworten, kann zu einer neuen Wertschätzung der eigenen Leistung führen. Gleichzeitig hilft es, Grenzen zu setzen: Was kann und will ich leisten? Es ist ein Balanceakt, der Kraft und Mut erfordert, aber auch die Möglichkeit bietet, eine neue, wertschätzende Beziehung zu sich selbst aufzubauen und auf sich aufzupassen.
*Désirée von Bohlen und Halbach ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende des Desideria e.V.