KOLUMNE

Der 9. November

von Redaktion

Es ist Tradition, am 9. November öffentlich Namen zu verlesen – die Namen derer, die 1938 Opfer der Nazipogrome wurden. Wenn ich bei einer solchen Lesung Namen nach Namen vorlese und höre, schaudert es mich innerlich mehr, als bitterkalte Nachmittage mir von außen anhaben. Buben und Mädchen, Männer und Frauen – jeder Name ein unverwechselbares Gesicht, eine einzigartige Geburt, Spielen, Lieben, Lernen, Arbeiten. Dann der Tod. An den Orten, an die Juden und Jüdinnen verbracht wurden, wurde kein Mensch mit Trauer im Herzen zu Grabe getragen, sondern in eiskalter Perfektion Massenmord exekutiert.

Der 9. November vor 87 Jahren war der öffentliche, offizielle, unüberseh- und unüberhörbare Beginn der systematischen Barbarei gegen jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen, die in die Shoa mündete. Pogrome, was voranging und folgt: Orte der Hölle, die wir in der Erinnerung wachhalten – bis zum 7. Oktober 2023, dem größten Massenmord an Juden und Jüdinnen seit der Shoa. Wir müssen ihr Gedächtnis pflegen, um sie der Leere des Vergessens zu entreißen. In größtem Respekt vor den kleinen und großen Menschen, für die diese Erde die letzte war, auf der sie gehen, stehen und tanzen konnten.

Novemberpogrome – Gedenken, das schmerzt. In allen Tonlagen ist der Verlust menschlichen Lebens zu beklagen, der Verlust einer humanen Kultur, wie er sich im vergangenen Jahrhundert millionenfach manifestiert hat und in diesem neu begonnen hat. Das immer wieder proklamierte „Nie wieder!“ ist leiser geworden, das Geschrei gegen Juden und Jüdinnen sehr laut. Ihre Bereitschaft, ihr Mut und ihre Kraft, nach 1945 wieder in Deutschland leben zu wollen, wird nicht mehr dankbar als Geschenk angenommen und angemessen gewürdigt. Jüdisches Leben in Deutschland hat sich aufs Schönste neu entfaltet – muss man sagen „hatte“?

Die Kippa löst mancherorts Aggressionen aus. Jüdische Buben und Mädchen müssen in Kindergarten und Schule beschützt werden. Schmierereien an jüdischen Häusern und Friedhofsschändungen zeigen, wes Ungeistes Kind schon wieder überall unterwegs ist. Wer bei Trost und bei Verstand ist, freut sich dagegen über eine lebendige Kultur der Gemeinsamkeit. Sie lebt von der Einigkeit darüber, dass man Menschen anderer Religion, anderer Herkunft und Nationalität das Lebensrecht nicht abspricht. Mehr noch: dass man mit ihnen in der Würde des Unterschieds und der Freude der Gemeinsamkeit lebt, lacht, klagt und feiert.

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