Abertausende stehen täglich grantig an Münchner S-Bahnhöfen und warten und warten. Ich gehöre dazu und darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Matthias Bieber, ich bin Redakteur dieser Zeitung und freue mich, dass Sie die Bahn auf Vordermann bringen wollen, hoffe das Beste und möchte Ihnen aus aktuellem Anlass aus meinem Alltag als Pendler erzählen.
Ich fahre fünf- bis sechsmal pro Woche von Oberschleißheim zum Hauptbahnhof und retour. Macht 20 Kilometer Wegstrecke und 20 Minuten Fahrt mit der S1. Die fuhr in den vergangenen knapp drei Wochen morgens nur ein einziges Mal ohne Verspätung in Oberschleißheim ein. Manche Züge fallen aus, 10 bis 15 Minuten Verspätung sind Alltag.
Faustregel: Wenn man zu spät losfährt, summiert sich die Verspätung auf der Strecke weiter. Ich komme nach 40 statt 19 Minuten an der Hackerbrücke an, steige aus und gehe die paar Mehr-Meter zur Redaktion. Spare mir den Baustellen-Hauptbahnhof. Retour werde ich wie häufiger zu Fuß die Dachauer Straße bis zum Bahnhof Moosach laufen. Tut gut, und sollte mal wieder Stammstrecken-Chaos sein, fährt die S1 ohnehin erst ab Moosach los. Der 6,7 Kilometer lange Weg dauert eine gute Stunde, wenn man flott unterwegs ist. In Moosach fahre ich per Rolltreppe (Luxus!) zum Bahnsteig. Oben steht auf der Anzeige: Die nächsten drei Züge Richtung Freising/Flughafen fallen aus. So wie vorgestern. Grund: Oberleitungsschaden.
Kein Ersatzverkehr, nirgends. Der Bahnhof wird immer voller. Falls in frühestens 70 Minuten die erste S1 einfährt, wird es eng. Ich bin weder Bodybuilder noch Bohnenstange und habe genug Anstand, nicht mit Ellenbogen alles wegzurempeln, was geht. Also umdrehen, die nächste U-Bahn nehmen retour Richtung Innenstadt. Am Scheidplatz aussteigen, treppauf-treppab zum anderen Gleis und mit der nächsten U2 Richtung Norden zur Endstation Feldmoching fahren. Die ist nur noch eine Station von Oberschleißheim entfernt.
In Feldmoching zeigt die Anzeige: Nächste S-Bahn in 27 Minuten Richtung Freising. Ein Zeit-Schnäppchen. Ich laufe mit gefühlt 269 anderen entnervten Passagieren an den Haltestellen für diverse Buslinien hin- und her. Nur eine scheint Richtung Oberschleißheim zu fahren. Rund 60 Leute stehen an meiner Haltestelle. Sinnlos. Ich kaufe mir eine Frust-Buttermilch und begebe mich wieder auf den Bahnsteig. Alles in allem sind 18 Minuten vergangen. Die Anzeige zeigt allerdings keine verbleibenden neun Minuten Wartezeit an, sondern 29.
Schienenersatzverkehr? Fehlanzeige. Falls irgendwann ein Gefährt kommt, wird es rappelvoll sein. Was bleibt? Richtig, Schusters Rappen. Macht weitere fünf Kilometer, jetzt durchs Dunkle. Also den Feldweg entlang, links Böschung, Büsche und Gleise, rechts rauscht der Wald. Nach einer halben Stunde rattert die erste S-Bahn vorbei, nochmal 20 Minuten später als angekündigt. Fazit: Hinweg 40 Minuten Verspätung, Rückweg zweieinhalb Stunden, Ankunft Ortsschild 19.55 Uhr. Zu spät zum Einkaufen.
Liebe Frau Palla, gibt es Schmerzensgeld für meinen Muskelkater? Eine Gratis-Massage? Eine Stunde beim Wut-Therapeuten? Das Bahn-Chaos, das Deutschland lächerlich macht, fängt im Kleinen an. Etwa bei meiner S-Bahn. Herzliche Grüße aus der Redaktion, Ihr Matthias Bieber.