Historische Bunkeranlage am Obersalzberg: ein Ort zwischen Dokumentation und digitaler Abenteuerkulisse.
Verbotenes zieht Klicks: Das Titelbild des Seltix-Videos auf YouTube zeigt, wie Lost-Place-Ästhetik ein riesiges Publikum erreicht und Experten alarmiert.
Berchtesgaden – Auf dem Handybildschirm flackern dunkle Gänge im Taschenlampenlicht. „Wie tief geht es da wohl rein“, fragt der YouTuber Seltix, während er sich Schritt für Schritt in einen ehemaligen Stollen am Obersalzberg vortastet. Sein Video über „Hitlers geheimes Versteck in den Alpen“ zählt binnen Wochen mehr als eine halbe Million Aufrufe – deutlich mehr, als die offiziellen Angebote der Dokumentation Obersalzberg je erreichen.
Dort weiß man, wie heikel das ist. Für viele junge Zuschauer ist der Clip wohl der erste Kontakt mit dem historischen Ort. Die Dokumentation Obersalzberg, ein Lern- und Erinnerungsort des Freistaats Bayern, zieht klare Bilanz. „Das Video fällt in die Kategorie der Lost-Place-Entdeckungstouren“, so Pressereferentin Melanie Diehm.
Teile seien zwar offiziell zugänglich, etwa der Bunker oder das Kehlsteinhaus. „Dennoch handelt es sich um den Versuch, den historischen Ort mit einer Aura des Geheimnisvollen und Verbotenen zu umgeben, um Klickzahlen und damit Einnahmen zu generieren.“
Dabei beginnt das Video erstaunlich korrekt. Es erklärt Hitlers Rückzugsort, die abgeschottete Führungszone, den Ausbau der Bunker, die Zerstörung nach 1945. Seltix zeigt das Kehlsteinhaus, den Aufzug, filmt in der Ausstellung, sitzt im Raum mit Zeitzeugenberichten über Zwangsarbeit und nennt die Bedingungen „unmenschlich“. Am Ende mahnt er Respekt an und empfiehlt den Besuch vor Ort.
Diehm kritisiert dennoch „fehlerhaft recherchierte“ Passagen und verharmloste Risiken. Gemeint sind vor allem Spekulationen über angebliche Atomschutzbunker oder geheime Liftverbindungen. Diese Mythen aus einschlägigen Foren sind historisch nicht belegt. Im Video werden sie breit erzählt. Zwar spricht Seltix später von „spekulativen Behauptungen“, die aber „spannend“ seien.
Die Inszenierung verstärke diese geheimnisvolle Aura. „Primär geht es darum, die Lust am Entdecken unbekannter oder gar verbotener Orte mit der historischen Komponente zu verbinden und so zu monetarisieren“, sagt Diehm.
Hinzu kommt ein formaler Punkt. Für Aufnahmen in der Ausstellung und am Kehlsteinhaus braucht es für gewerbliche Nutzung eine Drehgenehmigung. „Für beide Orte wurden keine Genehmigungen erteilt“, teilt die Pressestelle mit. Das Video bewege sich damit auch rechtlich in einer Grauzone. Das Management von Seltix reagierte nicht.
Der Lernort, den jährlich Zehntausende besuchen, muss sich nun mit Influencern arrangieren, die online weit mehr Menschen erreichen. Lost-Place-, Urban-Exploration- und Dark-Tourism-Formate boomen weltweit. Der Obersalzberg ist dafür ideal: sichtbare Überreste, globale Bekanntheit, Schlagworte wie „Hitler“, „geheim“ oder „Bunker“.
Historiker sehen das ambivalent. Solche Videos erreichen Menschen außerhalb von Schulbüchern, doch der Fokus verschiebt sich: vom Tatort zur Abenteuerkulisse.
Seltix versucht beides. Er zeigt Zwangsarbeit und Vernichtungskrieg, ruft zu Respekt auf. Gleichzeitig steigt er im Halbdunkel in einen Stollen hinab und spekuliert über eine „Underground-Technoparty“.
Für die Region stellt sich die Frage: Reichen klassische Führungen, während YouTube die Wahrnehmung prägt? Oder braucht es eigene Formate, ohne die historische Ernsthaftigkeit zu verlieren? Klar ist: Die Bilder des Obersalzbergs liegen längst nicht mehr nur bei Historikern. Sie zirkulieren als Vlog und Lost-Place-Abenteuer. Die Stellungnahme der Dokumentation ist mehr als Kritik an einem Video. Sie zeigt, dass Erinnerungskultur im Plattform-Zeitalter neu verhandelt wird – in jenen Sekunden, in denen Nutzer entscheiden, ob sie einen Lernort besuchen oder den nächsten Lost-Place-Clip.