Die Ausweise der Stunde Null

von Redaktion

Gustl Bayrhammer als junger Schauspieler. © Bay Staatsbibliothek

Der Behelfsausweis mit Fingerabdruck von Bayrhammer. Das zweite Exemplar musste er bei sich führen.

Ulrike Hofmann vom Stadtarchiv München zeigt die Behelfsausweise von Thomas Wimmer und Erni Singerl von 1945. Früher lagerten sie in solchen Blechkisten. © Marcus Schlaf (2)

München – Adolf Bayrhammer legt seinen rechten Zeigefinger auf das Tintenkissen und drückt ihn danach auf zwei Stück Papier. Das eine muss der 23-Jährige am Ende des Prozederes einstecken und fortan immer bei sich führen, das andere behält die Militärregierung. So läuft das im August 1945. Als der Zweite Weltkrieg schon seit gut drei Monaten zu Ende ist und die US-amerikanischen Besatzer versuchen, dem Chaos in München endlich ein Ende zu setzen. Also werden alle Menschen aufgerufen, sich wie der Mann, der später als Gustl Bayrhammer Karriere machen sollte, eine „zeitweilige Registrierungskarte“ mit Fingerabdruck ausstellen zu lassen.

Zu dem Zeitpunkt floriert der Handel auf den Schwarzmärkten. München ist Treffpunkt für allerhand Menschen, die die Kriegswirren anspülen. Nicht nur Münchner versuchen in den Trümmern der zerbombten Großstadt zu überleben. Auch Geflüchtete, Displaced Persons, heimkehrende Soldaten und Evakuierte, die vom Land zurück in die Stadt ziehen, suchen Wohnungen und Nahrung. Noch gibt es weder ein Grundgesetz noch eine Währung. Für Sicherheit und Ordnung sorgen die Besatzer. Zur Stunde Null ist eine Volkszählung für die Polizeireviere, die sich nach Entlassungen erst langsam wieder im Aufbau befinden, aber ein organisatorischer Kraftakt.

418 dicht gefüllte Kartons im Stadtarchiv München zeugen bis heute davon. Historikerin Ulrike Hofmann steht zwischen den Regalreihen, in denen sie aufbewahrt werden. Die Archivarin öffnet eine Kiste nach der anderen, bis sie die Karte von Adolf Gustav Bayrhammer gefunden hat. „Meist sind die Boxen alphabetisch und nach Geschlechtern sortiert, aber ganz erschließt sich uns das damalige System bis heute nicht“, sagt Hofmann. Das Nachkriegs-Chaos beherrscht auch noch den Baier, Beyer & Co. „Allein die schweren Metallkisten von damals wurden in säurefreie Archivboxen getauscht und die teils stark verschmutzten Papiere zwischen 2010 und 2016 gesäubert.“ Eine einzige Metallkiste blieb der Nostalgie wegen im Archiv, die vergangenen 80 Jahre haben sie rosten lassen.

Bayrhammers Karte hat einiges zu erzählen: Als Beruf ist bereits Schauspieler vermerkt. Und da steht auch, dass er als ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht am 11. August 1945 entlassen worden ist. Sechs Tage später holte er sich die Erstausfertigung des Papiers. Im Krieg war Bayrhammer Nachrichtenfunker bei der Luftwaffe, soll den Großteil seines Solds aber für Schauspielunterricht in Berlin ausgegeben haben.

Das Plakat, das Anfang Juli 1945 alle Deutschen ab 12 aus München und dem Landkreis zur Registrierung aufruft, wird einst auch Volksschauspielerin Erni Singerl gelesen haben. „Die Tage, wann sich wer melden musste, waren je nach Anfangsbuchstabe des Familiennamens festgelegt“, erklärt Hofmann. Die damals 23-jährige Ernestine müsste demnach am 17. Juli 1945 bei der Polizei erschienen sein. Da wird sie wohl schon sehnsüchtig auf ihren Mann Simon Singerl gewartet haben. Der ehemalige Reichsbahnmitarbeiter sollte allerdings einige Wochen später auf seinem Rückweg aus der Kriegsgefangenschaft sterben.

Jede Zweitausfertigung der Registrierkarten im Archiv erzählt solche Geschichten. Erhalten sind etwa auch die von Pumuckl-Schöpferin Ellis Kaut sowie Thomas Wimmer. Der spätere Münchner Oberbürgermeister erhält sie am 21. Juli 1945. Wenige Tage später meldet das Polizeipräsidium der Militärregierung, dass schon 449 922 Personen erfasst wurden. „Das entsprach damals rund 99 Prozent der Münchner Bevölkerung über 12 Jahren“, sagt Hofmann. „Eine wichtige Zahl, immerhin ging es ja darum, als Besatzungsmacht und Verwaltung zu wissen, wie viele Menschen versorgt werden müssen und wie die Ausgabe von Lebensmittelkarten zu steuern ist.“

Die Menschen in Bayern mussten sich damals übrigens recht lang mit dem von den Amis ausgegebenen Behelfswisch begnügen. Personalausweise werden in der Bundesrepublik Deutschland erst 1951 ausgegeben. In dem Jahr feiert München schon die Eröffnung des Kaufhofs am Stachus. Der Neustart ist in vollem Gange.

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