Begleiter auf dem letzten Stück Weg

von Redaktion

München – Wolfgang Göttlicher weiß, wo sich die andere Sonnenblume versteckt hat. Auf dem Tisch vor ihm sind Memory-Karten ausgebreitet. Eine Sonnenblume ist aufgedeckt. Seine Hand bewegt sich zielstrebig auf eine Karte zu. Doch seine Finger können sie nicht greifen, sie rutscht ihm weg, bevor er sie umdrehen kann. Gertrud Friess-Ott hilft ihm. „Du gewinnst schon wieder“, sagt sie, als sie ihm die Karte auf seinen Memory-Stapel legt und ihn anlächelt. Wolfgang Göttlicher lächelt zurück – nicht mit dem Mund, mit den Augen. Gertrud Friess-Ott und er kennen sich erst seit gut zwei Monaten. Aber sie verstehen sich ohne Worte.

Vor zehn Jahren hat Wolfgang Göttlicher seine Diagnose bekommen: atypisches Parkinsonsyndrom. Inzwischen ist die Krankheit stark vorangeschritten. Seine Motorik lässt immer stärker nach, er sitzt im Rollstuhl, kann nicht mehr sprechen. Auch das Schlucken fällt ihm immer schwerer. Früher war Göttlicher Manager, hat Musik gemacht, ist leidenschaftlich gerne Motorrad gefahren. Heute braucht er für alles Hilfe. Kognitiv hat ihn die Krankheit nicht beeinträchtigt, er versteht jedes Wort. Aber er kann sich nur noch mit Blicken verständlich machen. Oder indem er mit dem Finger auf etwas deutet.

Seine Frau Astrid war früher Krankenschwester, sie pflegt ihn zu Hause in München. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Auch nachts kann sie selten durchschlafen. Manchmal steht ihr Mann aus dem Bett auf, manchmal stürzt er. Aber sie bekommt Hilfe. Vor einigen Jahren lernte sie den Christophorus Hospiz Verein kennen. Einmal in der Woche nutzt sie das Tagesangebot. Für ihren Wolfgang bedeutet es etwas Ablenkung, für sie eine kleine Auszeit. Und nun gibt es Gertrud Friess-Ott in ihrem Leben. Sie ist Hospizhelferin und ehrenamtlich für den Verein tätig. „Wir haben bei unserem Kennenlern-Treffen sofort gemerkt, dass es passt“, sagt Astrid Göttlicher. Seitdem kommt die 66-Jährige einmal in der Woche zu den Göttlichers und verbringt ein paar Stunden lang Zeit mit Wolfgang.

Meistens sitzt er in seinem gemütlichen Sessel am Fenster, hat Kopfhörer auf den Ohren und hört ein Hörbuch, wenn Gertrud Friess-Ott kommt. Mit Worten kann er sie nicht begrüßen, aber er hält ihre Hand lange fest. Manchmal, wenn er sich besonders freut, drückt er ihr einen kleinen Kuss auf die Wange oder schließt seine Arme fest um sie. Astrid Göttlicher lächelt, wenn sie das sieht. Es tut auch ihr gut, dass ihr Mann sich so über die Besucherin freut. Das macht es ihr leicht, ihre Rolle als pflegende Ehefrau für ein paar Stunden ruhen zu lassen. An diesem Nachmittag fährt sie kurz zu ihrem Schwager, während am großen Esstisch ein Memory-Duell ausgetragen wird.

Auch Gertrud Friess-Ott hat früher in der Pflege gearbeitet, sie war Krankenschwester. Als sie in Rente ging, wollte sie ein wenig ihrer Zeit anderen schenken. Und schnell fand sie die richtige Aufgabe für sich, sie ist seit drei Jahren Hospizhelferin. „Kein Mensch sieht, was pflegende Angehörige über Jahre leisten“, sagt sie. Es dauerte etwa ein Jahr, bis sie die Ausbildung abgeschlossen hatte. Dann lernte sie ihren ersten Klienten kennen. Sie trafen sich nur zweimal, dann starb der Mann. Manchmal ist das letzte Stück Weg, das sie mit anderen Menschen geht, sehr kurz. Manchmal dauert eine Begleitung Jahre. So war es bei ihrem letzten Klienten.

Gertrud Friess-Ott sagt über sich selbst, dass sie mit dem Tod und schweren Krankheiten gut umgehen kann. „Beides hat ja zu meinem Beruf gehört.“ Trotzdem ist sie dankbar, dass der Hospizverein einmal im Monat eine Supervision für alle Ehrenamtlichen anbietet. „Der Austausch tut gut.“ Gertrud Friess-Ott schafft es, die schönen Seiten zu sehen. Vor allem zeigt ihr ihre Arbeit, wie wichtig soziale Beziehungen im Leben sind. Am Lebensende ganz besonders.

Einfach ist ihre Aufgabe trotzdem nicht immer. Wolfgang Göttlicher möchte an diesem Nachmittag ein guter Gastgeber sein – so wie er es sein Leben lang gewesen ist. Er möchte Gertrud Friess-Ott einen Kaffee anbieten, deutet immer wieder auf die Küche. Sie schiebt ihn mit seinem Rollstuhl hin, hat aber Angst, den Kaffeeautomaten falsch zu bedienen. „Wolfgang, wir machen jetzt keinen Kaffee“, sagt sie. „Wir warten, bis Astrid zurück ist.“ Wolfgang Göttlicher will noch nicht aufgeben, immer wieder greift er nach der Kaffeedose, versucht sich aus seinem Rollstuhl hochzustemmen. Friess-Ott bleibt ruhig, weiß aber, dass sie bestimmt sein muss. Die Gefahr, dass er stürzt, ist groß. „Wolfgang, es geht jetzt nicht. Auch nicht dir zuliebe.“ Es dauert ein paar Momente, bis ihre grenzenlose Ruhe wirkt. Er lässt sich erschöpft in den Rollstuhl zurückfallen. Die letzten Minuten haben ihn angestrengt. Und sie haben ihm gezeigt, wie klein seine Welt geworden ist. Auch dafür braucht es keine Worte, Gertrud Friess-Ott versteht, wie er sich gerade fühlt. „Sollen wir jetzt gemeinsam dein Hörbuch weiterhören?“, fragt sie ihn. Er drückt ihre Hand ganz fest.

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