Seltsame Schlaggeräusche: Wolfgang Hirschauer am Bahndamm, wo er 2014 Schäden dokumentierte. © Peter Krinninger
Das Zugunglück vom Juni 2022 – direkt daneben verläuft die Bundesstraße. Der Bahndamm musste beim Bau der Straße verlegt werden. Kritiker sagen, er sei marode. © ADAC Luftrettung/dpa
Garmisch-Partenkirchen – Wolfgang Hirschauer hat das Beweisstück gespeichert. Es ist ein Video – das Video eines Anwohners der späteren Unglücksstelle von Burgrain, dort, wo im Juni 2022 ein Regionalzug entgleiste und fünf Menschen in den Tod riss. Das Video stammt aus dem Spätherbst 2014 und zeigt eine rostige Schiene mit einer möglicherweise porösen Schweißnaht. Ein Zug fährt drüber, es rattert, das Gleis senkt sich unter der Last deutlich auf und ab. Aufgenommen hat es Wolfgang Hirschauer. Er wohnt Luftlinie circa 300 Meter entfernt von der Bahnstrecke Garmisch-Partenkirchen–München im Ortsteil Burgrain – der Name der erst in den 1930er-Jahren entstandenen Siedlung ist heute unweigerlich mit dem Zugunglück verbunden. Derzeit läuft der Prozess gegen zwei Bahnmitarbeiter, er wird am Mittwoch fortgesetzt.
Hirschauer hatte im November, kurz nachdem der Prozess vor dem Landgericht München begonnen hatte, im Garmisch-Partenkirchner Tagblatt ein Interview mit dem Bahnkritiker Dieter Doege gelesen – und sich dann an einen Vorfall vor über zehn Jahren erinnert. Von seinem Haus aus hört er die Bahnstrecke, kennt den Lärm vorbeifahrender Züge. Im Jahr 2014 jedoch bemerkte er seltsame „Schlaggeräusche“, die über Wochen immer stärker wurden. Es war, als wenn ein Zug über eine gebrochene Schiene fuhr. Hirschauer machte sich selbst auf die Suche. „Ich habe eine Zeit lang gebraucht, bis ich den Ort fand“, berichtet er unserer Zeitung. Er stieg hoch zum Bahndamm und wartete auf den nächsten Zug. Und dann auf noch einen und noch einen. Nach vier Zügen war klar, woher das Schlaggeräusch stammte: von einer rostigen Schweißnaht – dort, wo zwei Schienenstränge miteinander verbunden sind. Hirschauer drehte ein Video.
Am 1. November 2014 schickte es seine Tochter an die damalige DB Netz, Abschnitt Süd. Die E-Mail und das Video liegen unserer Zeitung vor. „Sehr geehrte Damen und Herren“, heißt es darin, „zwischen Farchant und Garmisch-Partenkirchen bemerkte mein Vater ein immer lauter werdendes Geräusch, wenn der Zug über eine gewissen Stelle fährt.“ Und weiter: „Die genaue Stelle ist 15 m nördlich von dem Schild 98,0. Bei dieser Position sinkt das Kiesbett bis zu 5 cm. Dies ist 20 m vor einer Brücke und sollte so schnell wie möglich überprüft werden. Eine Entgleisung hätte katastrophale Folgen. Kontrollieren Sie bitte die Schweißnaht, da nicht zu erkennen ist, ob diese einen Riss hat.“
Hirschauer warnte vor einer Entgleisung – die es acht Jahre später tatsächlich gab. Kurz vor Kilometer 98 – das wäre nur etwa 250 Meter von der späteren Unglücksstelle entfernt.
Tatsächlich reagierte die Bahn im Jahr 2014, wie sich Hirschauer erinnert. Eine Langsamfahrstelle wurde eingerichtet. Später muss die Stelle repariert worden sein. Der Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf die Zustände bei der Bahn, die von Anwohnern auf Gleisschäden hingewiesen werden musste.
Zum Zeitpunkt des Bahnunglücks war Hirschauer im Urlaub, von der Katastrophe erfuhr er aus den Medien.
Doch ein Jahr später, im Jahr 2023, nachdem die Bahn die Strecke nach eigenen Angaben repariert und wieder für Zugfahrten freigegeben hatte, bemerkte Hirschauer erneut, dass etwas nicht stimmte. „Es ist mir wieder aufgefallen“, sagt er. Also wieder diese Schlaggeräusche. „Von Woche zu Woche ist es lauter geworden.“ Diesmal informierte er die Polizei, die wiederum verwies ihn auf die Bahn. Erneut wurde eine Langsamfahrstelle unweit der früheren Unglücksstelle eingerichtet – Tempo 70 statt der üblichen 100 km/h. Hirschauer hat das gelbe Warnschild selbst gesehen. Bald darauf wurde die erst vor Kurzem sanierte Stelle erneut repariert.
Der Bahnkritiker Dieter Doege war mehrfach vor Ort und hatte in Zusammenarbeit mit Prellbock Altona e.V. eine Studie verfasst, welche die Gründe für den Absturz der Wagen vom Bahndamm detailliert untersucht. Beim Prozess stehen poröse Bahnschwellen als Unglücksursache im Fokus. Doege hat eine andere Theorie: Der bis zu sechs Meter hohe Bahndamm, sei marode – wahrscheinlich, weil er falsch gebaut worden sei. Dazu muss man wissen: Der Bahndamm entstand erst Ende der 1990er-Jahre, weil die Bahnstrecke nach Bau der Tunnels Farchant verlegt werden musste. „Gemäß Unterlagen der DB Netz AG kam als Baumaterial für die Auffüllung des Dammes hauptsächlich der Ausbruch des zeitgleich errichteten Straßentunnels der B23 zum Einsatz“ – so schrieb die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung. Doege hält es für grob fahrlässig, dass damals lockeres Kalkgestein als Untergrund für einen Bahndamm verwendet worden ist. Noch dazu sei der Damm nicht näher untersucht worden. Auch das bestätigt die BEU: „Diese Inspektionen entsprachen jedoch nicht dem geforderten Untersuchungsumfang für Erdkörper.“
Doege hat seine Erkenntnisse und das Video von Anwohner Hirschauer auch an das Gericht geschickt. Er fordert, dass es beim Prozess berücksichtigt wird. Ob das geschehen wird – unklar.DIRK WALTER