Passau öffnet den Giftschrank

von Redaktion

Missbrauchsstudie des Bistums: Mindestens 672 Gewaltopfer – und 154 Beschuldigte

Der Passauer Dom St. Stephan. In dem Bistum wurden hunderte Kinder missbraucht, doch die Verantwortlichen vertuschten viele Taten. © Tobias C. Köhler/dpa

Passau – Hunderte Kinder und Jugendliche sollen im Bistum Passau zwischen 1945 und 2022 Opfer von Gewalt durch Geistliche geworden sein – aber das Ansehen der Kirche sollte gewahrt werden. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Universität Passau. Sie zeigt auf, wie das System Kirche Missbrauch und dessen Vertuschung möglich machte, und auch, welche Rolle die Elternhäuser spielten.

Mindestens 672 Kinder und Jugendliche – vorwiegend Buben – sind demnach im fraglichen Zeitraum missbraucht und misshandelt worden. Die mutmaßlichen Täter: mindestens 154 Geistliche. Die Taten sollen während der Internats- oder Heimunterbringung, im Religionsunterricht oder beim Ministrantendienst stattgefunden haben.

Ziel der Studie ist es, sexualisierte Gewalt und andere Formen körperlicher Misshandlung im kirchlichen Raum aufzuarbeiten. Dabei gehe es auch um strukturelle, organisatorische und kulturelle Faktoren, die Missbrauch ermöglicht oder dessen Aufdeckung erschwert haben. Verantwortlich gewesen seien Denk- und Handlungsweisen innerhalb des Systems Kirche, sagte Studienleiter Marc von Knorring. Diese hätten dazu geführt, dass etliche Bischöfe und Generalvikare „den Schutz der Institution Kirche und der Priesterschaft über das Wohl von Betroffenen stellten“. Der frühere Bischof Franz Xaver Eder bezeichnete den Schrank, in dem die Missbrauchs-Akten aufbewahrt wurden, als „Giftschrank“.

Bei der Zahl der Opfer können die Wissenschaftler eigenen Angaben nach teilweise lediglich schätzen. Es könnten durchaus doppelt so viele Opfer gewesen sein, vieles liege im Dunkeln. Die 154 Beschuldigten seien etwa 6,4 Prozent der in diesem Zeitraum geschätzt 2400 tätigen Priester, Diakone und Ordensgeistlichen. 128 dieser Kleriker sollen sich sexuell an Kindern und Jugendlichen vergangen haben. 86 Prozent der Verdächtigen seien mutmaßlich Mehrfachtäter.

Herausgearbeitet wird in der Studie, wie schwierig es für Betroffene war, sich Hilfe zu holen. Vertrauten sie sich etwa ihren Eltern an, sei ihnen oftmals nicht geglaubt worden. Für viele Eltern sei sexueller Missbrauch durch einen Geistlichen schlichtweg unvorstellbar gewesen. Zudem scheuten Eltern den Gang zur Polizei oder an die Öffentlichkeit, etwa aus Angst vor Ansehensverlust in der Gemeinde.

Die Studie beleuchtet über die Jahrzehnte den Umgang der jeweiligen Bischöfe mit Missbrauch. Fazit: Das Bistum Passau zähle zu den Diözesen, „für die hier bereits das Jahr 2002 als Zäsur im Sinne eines einsetzenden Wandels zum Besseren anzusehen ist“. Anders sei dies gerade in den 1950ern gewesen, als Kirchenvertreter gute Kontakte zu Justizbehörden und medizinischen Gutachtern gepflegt und Absprachen auf Freispruch oder Strafmilderung erzielt hätten. „Ausreichend kirchenfreundliche Staatsanwälte und Richter standen offenbar zur Verfügung, auch dies seinerzeit ein deutschlandweites Phänomen.“

Eine weitere Zäsur sei das Jahr 2010 gewesen. Der damalige Bischof Wilhelm Schraml habe in öffentlichen Stellungnahmen die „Null Toleranz“-Grenze gegenüber mutmaßlichen Tätern bekräftigt und Betroffene und Zeugen aufgefordert, sich zu melden. Hauptzweck sei jedoch – wie auch anderswo – gewesen, „Schaden von der in Bedrängnis geratenen Kirche abzuwenden“, so die Studienmacher. Erstmals habe aber mit Schraml ein Passauer Bischof das Leid der Betroffenen und die Notwendigkeit von Aufklärung angesprochen.

Ende November hatten die Forscher die Studie dem aktuellen Bischof Stefan Oster übergeben. Dieser bezeichnete es als Skandal, dass Kirchenverantwortliche ihre „Institution schützen“, „gnädig mit Tätern“ sein wollten und dabei „blind für die betroffenen Kinder und Jugendlichen“ gewesen seien. Diese „Kultur des Schweigens“ wurde laut Oster gestützt „durch ein kirchliches und gesellschaftliches Milieu“, in dem den minderjährigen Opfern nicht geglaubt oder die Taten tabuisiert wurden. Der Bischof bat die Opfer „in großer Hilflosigkeit“ um Verzeihung, „weil vieles einfach nicht wiedergutzumachen“ sei.DPA/EPD

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