München – Vera V. (38) kommt mit einer Gehhilfe in den Gerichtssaal, sie ist auch dreieinhalb Jahre nach dem Zugunglück von Burgrain gezeichnet. Sie erlitt einen Genickbruch, zwei Wirbel mussten durch Implantate ersetzt werden, ebenso ein Stück der Schädeldecke. Hinzu kamen ein Schädel-Hirn-Trauma, Beinverletzungen, ein mehrfacher Bruch des Handgelenks. Und sie verlor ihre Mutter. Die 70-Jährige saß ihr gegenüber, das weiß Vera V. noch. Erst als sie im Krankenhaus wieder erwachte und ihren Vater fragte, erfuhr sie, „dass die Mama gestorben ist“. Annemarie B. starb nach erfolgloser Reanimation im Rettungswagen, sie wurde 70 Jahre alt.
Es ist der 13. Prozesstag gegen zwei Bahnmitarbeiter, die wegen des Zugunglücks in Burgrain im Juni 2022 vor Gericht stehen. Ein Opfer nach dem anderen darf vor dem Landgericht München II schildern, wie es das Unglück in Erinnerung hat und wie es danach weiterging. Jedes Unfallopfer, so wird deutlich versucht, das Unglück anders zu bewältigen. Vera V. etwa arbeitet wieder, ihr Arbeitgeber war verständnisvoll, billigte ihr 100 Prozent Homeoffice zu. Vor Gericht schildert sie ihren langwierigen Genesungsprozess, das Unglück hat sie aus ihrem alten Leben gerissen. „Im Prinzip musste ich alles wieder lernen“ – essen, gehen, selbstständig leben. Eine Traumatherapie hilft ihr bis heute.
Michaela Sch. (46) hat eine Therapie begonnen, aber nach einigen Sitzungen abgebrochen. Sie wohnt in einem Dorf am Staffelsee, die Wege zu einem Therapeuten sind weit und mit dem Zug will sie nicht mehr fahren. Auch ihre Arbeit als Musiktherapeutin musste sie aufgeben. „Ich bin nicht mehr die Alte“, sagt sie vor Gericht. Hinzu kommt eine Krebserkrankung ihrer Tochter. Zug und selbst die U-Bahn zur Münchner Klinik meidet sie, es ist alles anstrengend. Mit erstickender Stimme erzählt sie, dass „ich nicht die Mutter sein kann, die ich gerne wäre“. Auch sie hatte schwerste Verletzungen – Beckenbruch, Milzriss –, an denen sie bis heute leidet.
Michaela Sch. tritt vor Gericht nicht nur als Zeugin, sondern auch als Nebenklägerin auf. Es gibt in diesem Verfahren nur zwei Nebenkläger – neben Sch. ist das der Sohn einer beim Unglück getöteten Ukrainerin. Ihre Anwälte haben Einsicht in alle Ermittlungsakten, was auch bei Verhandlungen mit der Deutschen Bahn wegen Schmerzensgeld und Ersatz für Verdienstausfall von Vorteil sein kann. Einer der Anwälte äußert gegenüber unserer Zeitung auch sein Unverständnis, dass nicht mehr Unfallopfer als Nebenkläger auftreten. Immerhin gab es beim Unglück 19 Verletzte mit Polytraumata – also Verletzte, die ohne ärztliche Hilfe verstorben wären. Es könne nur von Vorteil sein, sich in solchen Fällen mit Anwälten zu wehren. Deutlich wird das bei der Zeugin K. aus Murnau – die Türkin, deren Aussagen von einer Dolmetscherin übersetzt werden, saß mit ihren beiden Söhnen, damals ein und zwei Jahre alt, im Unglückszug. Beide Söhne wurden verletzt, unter anderem erlitten sie Schnittwunden am Kopf. Richter Thomas Lenz fragt bei allen Opfern nach, wie viel Geld sie erhalten haben. Für die beiden Kinder überwies die Deutsche Bahn je 500 Euro – nur 500 Euro, muss man wohl sagen. Auch Prozessbeobachter schütteln den Kopf.
Bei Anneliese T., die durch die Glassplitter der Zugscheiben Narben am Hals hat und mit Problemen beim Laufen kämpft, sind es bisher 2500 Euro Vorschuss. Michaela Sch., die damals schwerst verletzte Nebenklägerin, hat bisher 30 000 Euro als Vorschuss erhalten. Ihr Anwalt will nach Abschluss des Prozesses eine sechsstellige Summe erkämpfen. Die Bahn bietet bisher eine niedrigere Summe an, aber das Ergebnis sei Verhandlungssache. Der Prozess wird fortgesetzt.DIRK WALTER