München – Der Termin ist schon fix: Am 29. März 2019 tritt Großbritannien aus der EU aus. Es wird aber immer unwahrscheinlicher, dass bis dahin die künftigen Beziehungen geregelt sind. So ein „No deal“-Brexit gilt als Schreckensszenario, das die Briten schwer treffen würde. Mit den Folgen beschäftigt sich Walther Michl, 33, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Europarecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
-Herr Michl, lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Was passiert am 29. März 2019, wenn es keine Brexit-Vereinbarung gibt?
Alle Briten müssten bis zu diesem Zeitpunkt die EU verlassen haben, weil sie sich dann ohne Aufenthaltstitel im Land befinden und sich strafbar machen würden. Das gleiche gilt für EU-Bürger in Großbritannien. Das wäre aber nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt wahnsinnig viele Facetten des Lebens, die über EU-Recht geregelt sind – und alle ersatzlos wegfallen. Etwa die zum Binnenmarkt für Luftverkehr, sodass der Flugverkehr eigentlich eingestellt werden müsste. In manchen Facetten wäre unser Verhältnis zu Großbritannien ähnlich ungeregelt wie zu Nordkorea.
-Mit welchen Brexit-Konsequenzen rechnen Sie in einem solchen Fall?
Für die Briten, die in ihrem Land fast nichts mehr selbst produzieren, würde fast alles sprunghaft teurer werden, gerade was Lebensmittel angeht. Zudem würde ihr Finanzsektor stark schwächeln, auf den sich die Wirtschaft stützt. Für die EU wären die Auswirkungen weniger stark spürbar. Großbritannien ist zwar ein wichtiger Partner, aber unser Handelsraum ist viel größer.
-Wie wahrscheinlich ist so ein Szenario?
Im Augenblick vertreten die Briten die Position, dass die EU einlenken muss. Das nennt man im Englischen „chicken game“: Wer sich zuerst bewegt, verliert. Sie versuchen deshalb, ihre Maximalforderungen möglichst lange durchzusetzen und hoffen, dass die andere Seite schwach wird.
-Wie lange geht dieses „Spiel“ noch weiter?
Bis die Wirtschaft in Großbritannien wirklich nervös wird. Momentan sind alle in Schockstarre und schweigen, obwohl sie wissen, dass der Brexit ohne Deal das Schlimmste ist, was passieren kann. Es kann aber relativ schnell eine Panik entstehen, die dann eine Dynamik in den Verhandlungen auslöst. Aber das sehe ich noch nicht.
-Klingt dramatisch. Aber warum scheint das den Briten nicht bewusst?
Die Situation ist völlig absurd. Alle Experten lehnen den Brexit ab, aber im Wahlkampf für das Referendum ist nie diskutiert worden, was der Brexit denn wirklich bedeutet. Und auch in der Zeit nach dem Referendum hat sich die britische Regierung mit allem beschäftigt, nur nicht mit den technischen Einzelheiten. Theresa May und ihr Kabinett haben keine Linie; es ist noch nicht mal erkennbar, welches Ziel sie überhaupt verfolgen. Das macht es schwer, konstruktiv zu arbeiten.
-Wie lange wird es bis zu einer Einigung dauern?
Geordnete neue Beziehungen bis zum 29. März 2019 halte ich für völlig illusorisch. Zwei Jahre sind für solche Verhandlungen schon knapp bemessen, und das erste Jahr hat man jetzt schon vertrödelt. Aus meiner Sicht gibt es noch zwei Möglichkeiten: Entweder die Verhandlungsfristen werden verlängert, oder es wird ein Übergangs-Deal unterschrieben, mit dem alle EU-Regeln erstmal für zwei bis drei Jahre weitergelten. Das würde Zeit verschaffen. Aber auch für so eine Übergangsvereinbarung wird die Zeit knapp.
-Was könnte die EU tun, um die Gespräche wieder ins Laufen zu bringen?
Die EU sagt sich: Wir werden uns nicht bewegen, wir sind in einer stärkeren Position. Die Briten haben die Probleme verursacht, also müssen sie sie auch lösen. Es gibt aber schon die Vereinbarung, dass nur ein hinreichend großer Fortschritt erkennbar sein muss, um in die nächste Phase der Verhandlungen zu wechseln. Das ist ein wichtiges Angebot der EU, aber auch ein riskantes: Denn alle Regeln, die nicht endgültig fixiert ist, könnten hinterher wieder aufgekündigt werden.
-Stimmt es denn, dass sich die Briten die Rosinen herauspicken möchten?
Frühere Verhandlungen legen den Verdacht nahe, ja. Die Briten haben leider keinerlei Idealismus im Hinblick auf die europäische Integration, nicht einmal in der Nordirland-Frage. Deswegen kann jede Vereinbarung bis zum Schluss noch platzen.
-Es gibt die Idee der Briten, einfach neue Handelsverträge zu schließen. . .
Dafür müsste aber erst mal klar sein, wie das Verhältnis zur EU sein wird. Großbritannien kann parallel zum Brexit beispielsweise nicht einfach neue Freihandelsabkommen mit den USA oder Australien verhandeln. Wenn sie nämlich doch Teil der europäischen Zollunion bleiben möchten, müssen sie sich auch an das einheitliche außenwirtschaftliche Auftreten halten.
-Gibt’s noch einen Weg, den Austrittswunsch zurückzuziehen?
Es wird gerade diskutiert, ob das Land den Prozess einseitig stoppen kann. In der juristischen Literatur überwiegen die Meinungen, dass das möglich ist – aber es hat eben noch nie jemand ausprobiert. Niemand weiß, wie der Europäische Gerichtshof dazu stehen würde. Rechtssicherheit sieht anders aus.
-Andere sagen, Großbritannien könnte neu in die EU eintreten.
Ein neues Abkommen ist sicher möglich, das eine Sekunde nach dem Austritt greift. Die verbleibenden 27 EU-Länder könnten dann aber Forderungen an Großbritannien stellen und beispielsweise Vergünstigungen wie den Briten-Rabatt streichen. So oder so: Großbritannien hat sich in eine Lage manövriert, in der es für das Land keine beste Lösung mehr gibt.
Interview: Sebastian Dorn