München – Felice Iannone hat schwer zu schleppen. Paket für Paket wuchtet der 47-Jährige aus seinem gelben Lieferwagen. Normalerweise ist er auf seiner Tour um den Münchner Hauptbahnhof acht Stunden unterwegs. „Zurzeit dauert es aber etwas länger“, sagt der DHL-Fahrer. „Ich habe alle Hände voll zu tun, wegen der vielen Pakete sind wir in meinem Revier jetzt vor Weihnachten zu zweit unterwegs. Es ist anstrengend, aber wir schaffen das.“ Dank des florierenden Onlinehandels sind Fahrer wie Iannone gefordert.
Marktführer DHL spürt den Weihnachtsstress. Bis zu 8,5 Millionen Pakete täglich stellen die Fahrer in den Tagen kurz vor Weihnachten zu – doppelt so viele wie an Durchschnittstagen. Rund 10 000 zusätzliche Aushilfskräfte hat das Unternehmen für die Weihnachtszeit eingestellt, 12 000 Extra-Fahrzeuge sind im Einsatz. Und trotzdem bleiben Beschwerden nicht aus.
Reklamationen wie diese gehören zum Vorweihnachtsalltag: Im Zustell-Stress wirft der Bote das kostbare Paket durch ein geöffnetes Fenster beim Empfänger – leider landet es auf der anderen Seite im Badezimmer und ausgerechnet auf der Toilette. In der heftig boomenden Versandbranche werden Paketboten von den immer weiter wachsenden Sendungsmengen schier überrollt. Mit Folgen für die Empfänger: Lieferungen verspäten sich trotz Ankündigung um Stunden oder kommen gar nicht an, Paketboten beschädigen Pakete beim Hin- und Herräumen oder geben Sendungen am falschen Ort ab. Und die Belastung wird nicht weniger – im Gegenteil.
Mit den wachsenden Paketbergen wächst auch der Zorn der Kunden. Im Weihnachtsgeschäft dürften bei manchen Versendern und Empfängern die Nerven eh blank liegen. Die Verbraucherzentrale hat unter dem Stichwort „Paket-Ärger“ knapp zwei Jahre lang ein Beschwerde-Portal für verärgerte Kunden geführt. In der Zeit sammelten sich rund 21 000 meist wütende Mails. Beschädigte oder verschwundene Pakete, verspätete Lieferungen, Pakete einfach in den Hausflur gestellt, Benachrichtigungskarte im Briefkasten, obwohl jemand zu Hause ist – das sind die Punkte, die Verbraucher aufregen. „Schief geht es fast immer auf den letzten Metern zum Kunden“, sagt Iwona Husemann von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.
Die Bundesnetzagentur als Aufsichtsbehörde rechnet für 2017 mit rund 5000 Beschwerden zur Postzustellung. Das wäre ein Anstieg um fast ein Viertel. Die Zahl der Schlichtungsanträge in Streitfällen soll sich sogar verdreifachen. Die Aufsichtsbehörde will die Verbraucher unterstützen, ihre Befugnisse bei Missständen sind bisher allerdings begrenzt. „Ein zahnloser Tiger“, sagt ein Branchenkenner.
Der Boom des Online-Versandhandels hat das Paketgeschäft durcheinandergewirbelt. Branchenprimus DHL und Konkurrenten wie UPS, Hermes und DPD finden gar nicht genug Zusteller, um das enorme Marktwachstum abzudecken. „Die Sendungsmengen wachsen jährlich um 6 bis 12 Prozent“, sagt Uwe Speckenwirth von der Gewerkschaft Verdi. „In dem Ausmaß wird mit Sicherheit nicht eingestellt.“ So würden Zustellbezirke größer und größer, zugleich wachse der Krankenstand – „ein Knochenjob“, sagt Speckenwirth.
Nach Branchenschätzungen fehlen derzeit bundesweit knapp 6000 Zusteller – und im Weihnachtsgeschäft wächst das Zustell-Volumen noch mal kräftig. Der Paketdienstleister Hermes rechnet für 2017 mit dem mengenstärksten Weihnachtsgeschäft der Unternehmensgeschichte und bis zu 20 Prozent mehr Paketen als 2016. Das Unternehmen reagiert auf die Paketflut mit einem spektakulären Schritt: Erstmals soll es in besonders belasteten Regionen Obergrenzen für Online-Händler geben. Sind die erreicht, nimmt Hermes keine weiteren Lieferungen an und verzichtet auf das Geschäft.
Auch Konkurrent DPD verabredet mit seinen Kunden, auf welche Paketmengen sich das Unternehmen in einem bestimmten Zeitraum einzustellen hat. „Das sind für uns aber keine starren Obergrenzen“, sagte ein Sprecher. Im Gesamtjahr 2016 hat das Unternehmen 350 Millionen Pakete verteilt. „Für dieses Jahr erwarten wir bezogen auf das Gesamtjahr einen Zuwachs im hohen einstelligen Prozentbereich“, heißt es. Die Zahl der Lieferungen im Weihnachtsgeschäft werde im Vergleich zum Vorjahr wohl um 15 Prozent steigen.
Der enorme Druck auf die Branche und der Personalmangel sorgten teils für „wenig durchsichtige Beschäftigungsverhältnisse“ mit Sub- und Subsub-Unternehmen, sagt Verdi-Fachmann Speckenwirth. Für angebliche „Solo-Selbstständige“ gelten dabei die Arbeitszeitgrenzen von maximal zehn Stunden und der Mindestlohn nicht. „Die Verantwortung über die letzte Meile wälzen einige Unternehmen ab.“
Der WDR berichtete nach einer groß angelegten verdeckten Recherche vor Kurzem von illegalen Praktiken mit osteuropäischen Kräften mit Bezahlung weit unter Mindestlohn im Umfeld von Subunternehmen – und löste damit eine Groß-Razzia von Zoll und Polizei aus. Die Gewerkschaft Verdi fordert schon länger, die Zahlung von Sozialbeiträgen auch in Sub-Unternehmen durch eine strenge gesetzliche Haftungsvorschrift zu sichern.
Die Branche hat eine Idee, wie sie sich selbst aus dem Liefer-Dilemma befreien kann: Für Lieferungen bis zur Haustür sollen Paketkunden nach Ansicht mehrerer Lieferdienste einen Aufschlag zahlen (siehe Interview). „In der Zukunft kann es so kommen, dass die Paketdienste standardmäßig an den Paketshop liefern und die Lieferung zur Haustür dann zum Beispiel 50 Cent kostet“, sagte der Geschäftsführer des Paketdiensts DPD, Boris Winkelmann, kürzlich der „Wirtschaftswoche“.
Zustimmung bekommt der DPD-Chef vom Konkurrenten Hermes: „Die Zustellung an die Haustür muss angesichts des hohen Aufwandes teurer werden“, sagt Hermes-Geschäftsführer Frank Rausch. „Was wir dringend brauchen, sind große Paketshops oder Mikrodepots in den urbanen Räumen, die alle Paketdienste nutzen können.“
Marktführer DHL denkt nach eigenen Angaben weder über eine Obergrenze noch über eine Zusatzgebühr nach: „Einen Zuschlag für das Weihnachtsgeschäft oder Obergrenzen für unsere Großversender haben wir aktuell ebenso wenig geplant wie eine zusätzliche Gebühr für die Zustellung von Paketsendungen an der Haustür“, teilte eine DHL-Sprecherin mit.
Viel Ärger über die Paketboten – allerdings rät die Verbraucherzentrale dazu, beide Seiten des Problems zu sehen: Einerseits regten Kunden sich zu Recht über zerquetschte Pakete auf und kritisierten Sendungen, die so spät ankommen, dass etwa ein Blumenstrauß längst verdorrt ist. Andererseits kämpfen manche Zusteller um das wirtschaftliche Überleben. Sie haben nicht nur zu Weihnachten schwer zu schleppen.