Hamburg/München – Sie zünden Autos an, immer wieder zünden sie Autos an, völlig wahllos, in die Jahre gekommene Kleinwagen, dicke BMW, alles wird angezündet. Sie schlagen Scheiben von Geschäften ein, sie werfen Steine auf Anwohner, sie sprayen Häuserwände mit Graffiti voll, sie werfen Stühle eines Cafés durch die Luft. Und einer der vermummten, ganz in Schwarz gekleideten Gewalttäter schlägt sogar eine Scheibe ein und wirft einen Brandsatz in ein Haus. Es ist ein Rausch der Gewalt, den die Hamburger Polizei jetzt als Video ins Internet gestellt hat. Ein wütender Mob rennt durch die Hansestadt und hinterlässt Rauch, Asche und Verwüstung.
Das Filmchen, es ist eines von mehreren, dauert nur knapp dreieinhalb Minuten, aber die Bilder sind verstörend. Sie entstanden am Morgen des 7. Juli 2017 im Bereich der vornehmen Elbchaussee in Hamburg. Es sind die Tage des G20-Gipfels. Viele der Täter sind noch immer nicht ermittelt. Jetzt bekommen die Täter offensichtlich den langen Arm und den noch längeren Atem des Rechtsstaats zu spüren. Die Aufnahmen sind Teil einer groß angelegten Polizeiaktion. Mit teils gestochen scharfen Bildern sucht die Polizei seit gestern nach 104 mutmaßlichen Beteiligten an den G20-Krawallen in Hamburg. Die Fotos wurden zusammen mit Videosequenzen des Tatgeschehens auf die Internetseite polizei.hamburg.de gestellt. Die Aufnahmen seien aus der vorliegenden Datenmenge von mehr als zwölf Terabyte extrahiert worden, sagte ein Polizeisprecher. Sie hätten teilweise die Qualität von Passbildern. Es ist eine der größten Fahndungen dieser Art. Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer bat die Bevölkerung um Mithilfe.
Den 104 Gesuchten werden jeweils erhebliche Straftaten vorgeworfen. In den meisten Fällen geht es um gefährliche Körperverletzung, schweren Landfriedensbruch oder Brandstiftung. Nach den Tatverdächtigen hat die Polizei zuvor erfolglos gefahndet. In allen 104 Fällen hätten Amtsrichter der öffentlichen Fahndung zugestimmt.
Die Polizei schätzt, dass in den Tagen vom 6. bis zum 8. Juli 5000 bis 6000 Täter aktiv waren. Die Soko „Schwarzer Block“ hat bislang 3340 Ermittlungsvorgänge eingeleitet, sagte ein Polizeisprecher. Bei mehreren hundert Verfahren seien Beschuldigte bereits namentlich festgemacht worden. Die gesuchten Tatverdächtigen sind in der großen Mehrheit junge Männer. Doch auch einige Frauen sind dabei. Besonders auffällig etwa eine blonde Frau mit bauchfreiem Top und rot-weißen Turnschuhen. Sie ist unter dem Tatkomplex Stein- und Flaschenbewurf aufgeführt. Die Polizei hat das veröffentlichte Material in fünf Rubriken unterteilt. Die übrigen vier lauten: Elbchaussee, Rondenbarg, Plünderungen und G20 not welcome.
Das Material, das die Polizei zusammengetragen hat, ist oft von bestechender Qualität – es sind auch Luftbilder dabei, die vom Polizeihubschrauber aus gemacht wurden. In einem Video hört man, wie ein Polizist im Hubschrauber sagt: „Wir sind an einer Tätergruppe dran, sie wechseln die Kluft.“ Die vermummten Randalierer ziehen ihre schwarze Kleidung aus – und sind plötzlich zu erkennen. Auf der Internetseite der Polizei sieht man die Fotos der Täter samt Beschreibung. Das liest sich dann so: – männlich, 160-175 cm, schlank, am Hinterkopf getragene Rastazöpfe.
-männlich, ca. 165-175 cm groß, mitteleuropäisches Erscheinungsbild, lange Haare (Rastazöpfe o.Ä.).
-männlich, ca. 165-175 cm groß, mitteleuropäisches Erscheinungsbild, Geheimratsecken.
– weiblich, mitteleuropäisches Erscheinungsbild, lange, blonde Haare, schlanke Figur.
Auf anderen Fotos sieht man Täter, die einen Rewe-Supermarkt plündern und die gestohlene Ware im roten Rewe-Einkaufskorb nach draußen tragen. Andere klauen palettenweise dänisches Starkbier. Es gibt Steinewerfer und Flaschenwerfer, die auf frischer Tag gefilmt wurden, genau wie Angreifer, die Polizisten treten. Die Ermittlungsbehörden haben alle Bilder und alle Videos genutzt, die sie bekommen konnten. Auch die Fernsehsender NDR, N24, RTL, ZDF, Sat.1 und n-tv wurden angefragt, ob sie unveröffentlichtes Material an die Polizei weitergeben. Einige Sender sind der Bitte nachgekommen.
Der G20-Gipfel hat für viele Beteiligte auch Monate danach noch ein Nachspiel. Die Behörden überprüfen noch immer 100 Polizisten, denen Fehlverhalten vorgeworfen wird. Im ganzen Land hat es zuletzt außerdem Razzien gegeben, um den Rädelsführern der gewaltbereiten autonomen Szene auf die Schliche zu kommen, die in Hamburg den Ton angaben. Dabei wurden 30 Wohnungen in acht Bundesländern durchsucht, allerdings nicht in Bayern.
Anfang des Monats wurde die bisher härteste Strafe in Zusammenhang mit den Hamburger Ausschreitungen ausgesprochen: drei Jahre und drei Monate Haft. Der 30-jährige Angeklagte hat in der Sternschanze Polizisten mit Flaschen und Steinen beworfen und er hat geholfen, ein Geschäft zu zerstören. Vor Gericht erklärte er, er sei zufällig in die Krawalle gerutscht, als er am Freitagabend nach Hause laufen musste, weil seine U-Bahn nicht gefahren sei.
Ein 28-Jähriger wurde Ende November zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er in einer der Krawallnächte eine Drogerie plünderte und Steine auf Polizisten warf. Die Richterin dankte den Ermittlungsbehörden noch im Gerichtssaal für das „gut recherchierte Videomaterial“. mit dpa