München – Mitten in der Nacht hat sich Lawinen-Experte Walter Alkofer, 74, noch einmal an seinen Computer gesetzt. Ein paar Mausklicks, dann hat er einen Überblick über Windgeschwindigkeit, Luftdruck, Temperatur und Schneehöhe auf sämtlichen Messstationen in den Alpen. Erst ist der Obmann der Lawinenkommission Schliersee (Kreis Miesbach) beim Blick auf seine Station zufrieden. Sie ist am Spitzingsee im Mangfallgebirge installiert, auf einem Vorgipfel der Brecherspitz, auf 1610 Metern. „Um Mitternacht hat das Thermometer dort oben noch Minus acht Grad angezeigt“, sagt Alkofer. Gleich nach dem Aufstehen, um 6 Uhr, hat er wieder nachgesehen. Da war es schon ein halbes Grad Plus. Alkofer seufzt. Der Temperaturanstieg bedeutet Tauwetter. Und Tauwetter bedeutet extreme Lawinengefahr.
„In der Schneedecke gibt es jetzt überall Schwachschichten, die eine Lawine auslösen können“, sagt Alkofer. Die Schwachschichten entstanden durch den Regen der vergangenen Tage. Der ist nun gefroren, das Eis von frischem Schnee bedeckt. Bereits gestern hat wieder Regen eingesetzt, dadurch wird der Schnee jetzt schwerer und drückt auf die sogenannte Eislamelle. Weil der Schnee unterhalb der Lamelle durch die Eisschicht keinen Wasserdampf abgeben kann, halten die körnigen Eiskristalle nicht mehr zusammen. Es entsteht Schwimmschnee. „Es ist nur eine Frage der Zeit, dass entweder die Schicht unter der Eislammelle oder die darüber abbricht und wegrutscht“, sagt Alkofer. „Dann kommt eine Lawine ins Rollen.“
Seit 1993 gibt es die europäische Gefahrenskala mit fünf Stufen, mit der die Lawinengefahr in den Bergen eingeschätzt wird. In Teilen Österreichs, Südtirols und der Schweiz, wo wegen der Schneefälle der vergangenen Tage ganze Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten wurden (siehe Kasten), wurde am Montag die höchste Stufe ausgerufen. Stufe fünf, das bedeutet: sehr große Gefahr. Sie galt zuletzt 1999, als eine Lawine den Skiort Galtür in Tirol verschüttete. 38 Menschen starben bei dem Unglück, 48 wurden verletzt.
In den vergangenen Tagen gab es in den Alpen wieder Todesopfer durch Lawinen zu beklagen. Im Berner Oberland in der Schweiz kamen zwei Tourengeher (50 und 67) ums Leben. Ein 29-Jähriger starb am Sonntag am Geigelstein in den Chiemgauer Alpen. Viele weitere Wintersportler wurden von Lawinen überrascht. Ein 35-jähriger Münchner, der mit seiner Frau und seinem Schwager an der Brünnsteinschanze im Mangfallgebirge unterwegs war, wurde von einem Schneebrett erfasst, etwa 200 Meter mitgerissen und verschüttet. Er überlebte mit Knochenbrüchen. Am Zwiesel bei Bad Reichenhall wurden nach kleineren Lawinenabgängen mehrere Skifahrer unversehrt gerettet.
Für den gesamten bayerischen Alpenraum galt am Montag Warnstufe vier. Das heißt, dass die Schneedecke an den meisten Steilhängen nur schwach verfestigt ist. Eine geringe Zusatzbelastung reicht dann aus, um eine Lawine auszulösen. Auch „spontane“ Abgänge ohne menschliches Zutun sind möglich.
Hans Konetschny ist der Leiter des Lawinenwarndienstes Bayern und in diesen Tagen ein schwer beschäftigter Mann. Dem Lawinenlagebericht für den Freistaat, der unter seiner Aufsicht erstellt wird, wird gerade besondere Bedeutung beigemessen. „Aktuell stehen wir ziemlich unter Strom“, sagt Konetschny. Das Wochenende war arbeitsreich, nicht nur für die Beobachter, sondern auch für die Helfer.
Neben dem morgendlichen Lagebericht erstellt der Warndienst seit vergangenem Winter auch eine tägliche Prognose. Die wird tags zuvor gegen 17.30 Uhr veröffentlicht und fasst die Erkenntnisse zusammen, die die Nachmittagsbeobachter zusammengetragen haben. „Das sind alles Skitourengeher, die speziell ausgebildet sind“, sagt Konetschny. Der Job sei nicht risikoarm, denn man müsse raus ins Gelände, zu jenen Gebieten, in denen Lawinen Probleme bereiten können.
Bei jeder Geländebegehung wird ein Schneeprofil erstellt, um Schwachschichten im Schnee zu analysieren. Die aktuelle Lage beschreibt Konetschny als kritisch: „Wir befürchten Selbstauslösungen, die theoretisch bis ins Tal gehen können.“ Eine Erhöhung auf Warnstufe fünf hält er für den bayerischen Alpenraum aber für unwahrscheinlich – er geht davon aus, dass heute auf Stufe drei reduziert wird.
Von Skitouren rät Konetschny dringend ab. „Wir können nur Warnungen aussprechen“, sagt er. Entscheiden müsse jeder Tourengeher selbst, ob er sich ins Gelände wagt. Auch wenn sich die Wetterlage erholt, ist die dreiteilige Notfallausrüstung Pflicht: Das Lawinenverschüttetensuchgerät, das Verschüttete per Funk ortet. Die Lawinensonde, eine Art Stab, der in den Schnee gestochen wird, um den Verschütteten zu finden. Und eine Schaufel.
Zur Vorsicht mahnt auch Lawinen-Experte Walter Alkofer. „Die Eislamelle ist unberechenbar“, sagt er. „Sie wartet nur auf ein bisserl Druck von oben – und dann geht’s dahin.“