München/Verden – Den letzten Brief sandte Walther von Seydlitz am 30. August 1955 ab. „Mein geliebtes Herze!“, schrieb er an seine Frau, die er nach seiner Gefangennahme im Kessel von Stalingrad über zwölf Jahre nicht gesehen hatte. „Warst Du ernsthaft krank?“ Und wie es der Mutter gehe – „hoffentlich wartet sie nicht vergebens auf mich.“ In seinem Brief, den der ehemalige Kommandierende General im LI. Armeekorps aus der Haftanstalt Nowotscherkassk bei Rostow schickte, erwähnte der 67-Jährige auch eine bevorstehende Reise des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer nach Moskau. „Sehr neugierig, was dabei herausspringt“, notierte der Kriegsgefangene.
Adenauer gelang in der Tat der Durchbruch. Auf seiner einwöchigen Moskau-Reise vereinbart er neben der Aufnahme diplomatischer Beziehung beider Staaten auch die Freilassung der noch rund 10 000 letzten, in der UdSSR verbliebenen Kriegsgefangenen – darunter auch Seydlitz. Am Abend des 6. Oktober 1955 konnte er im sogenannten Grenzdurchgangslager Friedland seine Ehefrau Ingeborg in die Arme schließen.
Mit ihr hatte er während seiner Zeit als General im Ostfeldzug stets regen Briefaustausch gepflegt. Über 250 Briefe sind nun (mit wenigen Ausnahmen) von der Tochter zur Veröffentlichung freigegeben worden. Ein eindrucksvoller Fund, illustrieren die Briefe doch die ganze Hybris des Ostkrieges, an dem Seydlitz seit dem Beginn des Feldzugs „Barbarossa“ am 22. Juni 1941 teilgenommen hatte. Der General, ursprünglich deutschnational eingestellt und keinesfalls ein Gegner Hitlers, wandelte im Verlauf des Ostfeldzugs langsam seine Einstellung.
Am 7. August 1942 begann die 6. Armee unter Generalmajor Friedrich Paulus ihre Offensive. Stalingrad taucht in den Briefen des Generals Seydlitz erstmals am 18. August auf.
„Wir stehen nun langsam hier vor dem großen Schlussakt an der Wolga, nachdem der Russe vom Westufer des Don endgültig vertrieben ist“, notiert er siegesgewiss. „Es geht also nun wohl um die berühmten beiden Eckpfeiler Leningrad und Stalingrad, während das große Mittelstück Moskau wohl für 1943 bleibt.“
Schon im September entbrannten die Kämpfe in der Stadt, in der damals etwa 600 000 Einwohner lebten und die auf Befehl Stalins zunächst nicht evakuiert worden war. Das irritiert auch Seydlitz, der am 24. September 1942 schreibt: „Besonders übel sind diese Stadt- und Häuserkämpfe. Der Menschheit ganzer Jammer aber packt einen an, wenn man dann noch sieht, wie die Bevölkerung, die nicht geflohen ist, dazwischen noch mit Babys und Kindern herumläuft.“
Seine Einheiten dringen ins Stadtzentrum ein, es gibt schwerste Kämpfe um den Hauptbahnhof und den Roten Platz. Die Schlacht um Stalingrad ist ein sinnloser Häuserkampf – selbst um einzelne Stockwerke wird fanatisch gekämpft.
Mitten in diesem Elend freuen sich die Eheleute auf ein Wiedersehen: „Mit meinem Urlaub komme ich immer mehr zu der Lösung Weihnachten“, schreibt Seydlitz am 16. Oktober 1942. Er sollte sich irren. Am Morgen des 19. November beginnen die sowjetischen Streitkräfte ihre „Operation Uranus“, durchbrechen eine von der mit Deutschland verbündeten rumänischen 3. Armee gehaltene Frontlinie und kesseln die Truppen der Wehrmacht innerhalb von fünf Tagen ein. „Ja, und mein Urlaub, stellt Euch lieber nicht zu 100%ig darauf ein, sonst ist die Enttäuschung zu groß“, schreibt Seydlitz am 17. November. Und eine Woche später ist ihm klar: „Tatsächlich sind wir bereits eingekesselt.“
Den Ernst der Lage vor Augen, entwickelt Seydlitz in einer Denkschrift Pläne für einen Durchbruch von innen – es wird ihm untersagt. Seiner Frau schreibt er einen sehr langen Abschiedsbrief: „Auf alle Fälle muss ich damit rechnen, dass dies einer meiner letzten, wenn nicht der letzte Brief sein wird, den ich Dir noch schreiben kann.“ Es habe „keinen Zweck, Dir diese Lage zu verheimlichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass man das lebend übersteht, ist für mich sehr gering.“ Und pathetisch ergänzt er: „Ich habe nur einen Wunsch, dass unser Sterben hier dann nicht umsonst gewesen ist für Deutschland und den Führer.“ Noch hält Seydlitz zu Hitler. Und an seine Frau gewandt: „Lass Dich noch einmal umarmen vereint mit den vier geliebten Kindern.“
Doch wider Erwarten hält der Briefkontakt auch im Kessel. Hitler ordnet eine Versorgung aus der Luft an, nachdem ihm Hermann Göring versichert hat, dass der benötigte Mindestbedarf von 500 Tonnen täglich eingeflogen werden könne. Eine Lüge – es sind nur 100 Tonnen. Beim Rückflug nehmen die deutschen Flugzeuge neben Verwundeten auch Briefpost mit. „Dass wir den Russen immer und immer wieder unterschätzen“, seufzt Seydlitz am 2. Dezember. „Noch geht’s uns leidlich und einen Winter halten wir es noch aus in der Festung. Dann vertrauen wir alle jetzt auf den Führer, der uns das Heraushauen fest versprochen hat“, schreibt er am 12. Dezember. Zwischendurch gibt es etwas Abwechslung: „Heute hier ein Film ,Wiener Blut‘ – entschieden das Richtige für die Kesselstimmung. Schöne Frauen und allerhand lustiger Blödsinn mit Moser und Lingen.“
Auch ein Radio gibt es, das „manchmal auch Lili Marleen ganz klar aus Belgrad bringt“ – der dortige Soldatensender hatte den Schlager von Lale Andersen populär gemacht, auch im fernen Stalingrad. Am 19. Dezember schwant Seydlitz: „Der Russe hat weiterhin sehr viel gelernt, das muss man anerkennen. Und seine Panzermassen scheinen unerschöpflich.“ Noch hat der General Hoffnung auf einen Durchbruch des Kessels, diesmal von außen. „Hoth nähert sich langsam.“ Gemeint ist der sogenannte Entsatzangriff unter dem Generaloberst Hermann Hoth, der den Kessel von Süden her aufbrechen sollte. Der Angriff beginnt am 12. Dezember, endet aber erfolglos am 23. Dezember.
Als General ist Seydlitz privilegiert. Das Verhungern und Erfrieren seiner Soldaten bei bis zu minus 40 Grad Kälte, das Sterben der Zivilbevölkerung – all das hat Seydlitz aber mit Sicherheit gesehen. Wie er das Massensterben seiner Soldaten empfand, dazu schweigt er. Der soldatische Gestus verbietet Trauer, Scham und Schuldgefühl, vielleicht will er auch seine Ehefrau zuhause in Verden (bei Bremen) nicht noch mehr beunruhigen. Schlimm genug ist das ja alles ohnehin. „Schreiben kann man es natürlich nicht“, diese Bemerkung liest man in den Feldpostbriefen des Generals öfters. Gelegentlich spiegelt sich freilich doch das pure Grauen in den Briefen wider, etwa wenn er am 16. Oktober schreibt: „Das entsetzlichste Elend (…) sind die zu tausenden abziehenden Flüchtlinge, die mit kleinen Kindern an der Hand oder im Arm in dieses Elend der Steppe ziehen, nachdem sie bereits während der ganzen bisherigen Belagerung in Erdlöchern gehaust haben. Unausdenkbar alles für den, der es nicht erlebte!“
Im Januar schlägt seine Stimmung um. „Lage nach wie vor ernst und gespannt (…) trotz aller schönen Versprechungen usw.“ Am 15. Januar schreibt er: „Es ist auch nicht die geringste Hoffnung mehr.“ Ein letzter Brief vom 17./18. Januar ist kurz, der General spricht vom sicheren Tod und furchtbaren Ende. Mit den Soldaten im Südkessel und dem Generalfeldmarschall Friedrich Paulus kapituliert er am 31. Januar. Am 2. Februar ergeben sich die restlichen Truppen im Nordkessel. Insgesamt sind in Stalingrad 150 000 deutsche und 400 000 russische Soldaten gefallen, dazu tausende Zivilisten.
In der Gefangenschaft avanciert Seydlitz schnell zum Präsidenten des „Bunds Deutscher Offiziere“ und wird damit zum Kopf der deutschen Militäropposition in sowjetischer Gefangenschaft. Das nehmen ihm, in der NS-Zeit und danach, viele übel. In Nazi-Deutschland verurteilt ihn das Reichskriegsgericht in Abwesenheit wegen Hochverrats zum Tod, seine Ehefrau wird zur Scheidung gezwungen.
Aber sie hält weiter zu ihm. „Seit 2 1/2 Jahren erste Postmöglichkeit“, schreibt Seydlitz am 27. Juli 1945. „Nachdem Hölle von Stalingrad überlebt, glaube fest an Wiedersehen in absehbarer Zeit!“ So weit ist es noch lange nicht. Erst 1955 kommt er frei – zuhause geschmäht als „Verräter“. Seine Ehefrau heiratet er erneut. Seydlitz stirbt 1976 mit 87 Jahren.
Literaturhinweis
Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939- 1955, (Hrsg. T.Diedrich/J.Ebert) Wallstein Verlag, 24,90 Euro