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„Die Magie von Olympia ist immer noch da“

von Redaktion

von Armin Gibis

München – Olympia? Uschi Disl muss lange nachdenken, bis sie sagt: „Das ist für jeden Sportler etwas ganz Besonderes – aber man kann es gar nicht in Worte fassen.“ Wahrscheinlich, weil es mehr ein Gefühl ist. Ein Gefühl, das die frühere Biathletin so gut wie jeden Tag wiederentdeckt, wenn sie auf ein beleuchtetes Regal in ihrem schwedischen Bauernhof schaut. Dort liegen neun Medaillen. „Ganz schöne Staubfänger“, sagt sie lachend. Aber die 47-Jährige fügt ganz schnell hinzu: „Die Medaillen gehören zu meinem Leben, ich bin stolz auf sie.“

Uschi Disl war einst eine Berühmtheit in ihrer Sparte, das lachende Gesicht des deutschen Biathlons, sie errang Weltmeistertitel, war Deutschlands Sportlerin des Jahres und verkörperte den Aufstieg des Biathlons von einer Randsportart zu einer Winterattraktion. Und ganz besonders aufsehenerregend setzte sich die Vorzeige-Oberbayerin im Zeichen der fünf Ringe in Szene. An fünf Olympischen Spielen nahm sie teil, mit ihren neun Plaketten (2 x Gold, 4 x Silber, 3 x Bronze) liegt sie zahlenmäßig ganz vorne in der ewigen deutschen Rangliste. Und Uschi Disl, die ihre Karriere 2006 beendete, erlebte dabei eben jenes Flair, das sie nicht recht in Worte fassen kann.

Während heutzutage auf Olympia die Dauerkritik wie faustgroße Hagelkörner niedergeht und dieses Weltereignis von Themen wie Doping, politischem Missbrauch und Gigantonomie überschattet ist, schienen das ganz andere Zeiten gewesen zu sein. Damals, als Uschi Disl so was wie Olympia-Romantik erlebte.

Allein schon die Beschreibung ihrer ersten olympischen Siegerehrung hört sich – gemessen an heutigen Eventerwartungen – fast kurios an. 1992 war das, die Spiele von Albertville, Uschi Disl und mit ihr das Frauen-Biathlon gaben ihr Olympia-Debüt. Manche Medien taten sich schwer, den neuen Wettbewerb ernst zu nehmen und schrieben noch von „Flintenweibern“. Die Medaillenzeremonie fand vor gerade mal 100 Leuten auf einem Dorfplatz statt. Sehr bescheiden das alles. Doch Uschi Disl, die Staffel-Silber errang, meint: „Alles war aufregend und supertoll.“ Dass auch die Rennen noch nicht perfekt organisiert waren, hatte für manchen Besucher seine Vorteile. „Ein Freund“, so erzählt Uschi Disl, „ist über den Zaun geklettert und hat sich praktisch in die Olympischen Spiele hineingeschlichen.“

Schon zwei Jahre später – bedingt durch die Umstellung des olympischen Turnus – dann Lillehammer. „Die schönsten Spiele überhaupt.“ Zu den Rennen habe es wahre „Massenwanderungen“ gegeben: „Die Norweger sind ein sportbegeistertes Völkchen. Die Fans haben bei minus zwanzig Grad im Zelt übernachtet und sich Lagerfeuer gemacht.“ Uschi Disl erlebte bei diesen Spielen, die als Olympia-Märchen in die Annalen eingingen, aber auch ein kleines sportliches Drama. Im Staffelrennen lag das deutsche Quartett nach zwei Läuferinnen bereits scheinbar uneinholbar mit zwei Minuten Vorsprung in Führung. „Wir sahen schon die Goldmedaille um den Hals baumeln.“ Doch dann versagten der Teamgefährtin Simone Greiner-Petter-Memm die Nerven, von 16 abgefeuerten Kugeln verfehlten zwölf das Ziel, die bedauernswerte Thüringerin musste sechsmal in die Strafrunde. „Simone ist innerlich zusammengebrochen, sie hat schon auf der Strecke geheult.“ Erstaunlicherweise rettete die Schlussläuferin Petra Behle noch Silber.

Nagano 1998 hat Uschi Disl nicht zuletzt deswegen in bester Erinnerung, weil sie einen kompletten Medaillensatz (Gold, Silber, Bronze) errang. Die Siegerehrungen fanden mittlerweile schon auf großer, schillernder Bühne statt, das Frauen-Biathlon hatte sich etabliert und erlebte 2002 in Salt Lake City seinen endgültigen großen Durchbruch mit Einschaltquoten von bis zu elf Millionen Zuschauern. Dabei wurde sogar ein gleichzeitig stattfindendes Europacup-Fußballspiel mit Borussia Dortmund klar übertroffen.

Olympia im US-Staat Utah präsentierte sich im wahrsten Sinne auch als große Show. Vor der Medaillenübergabe spielten Künstler wie Sheryl Crow oder Alanis Morissette. „Das waren Stars, die wir nur aus dem Radio kannten. Das hatten wir vorher noch nicht erlebt.“

Bei ihren letzten Spielen 2006 in Turin machte Uschi Disl, damals 35, noch einmal Bekanntschaft mit dem damals noch viel beschworenen olympischen Geist. Es war ihr letztes olympisches Rennen überhaupt, ihre letzte Chance, in Turin eine Medaille zu erringen. Nach dem letzten Schießen gab es kaum noch Hoffnung. Doch dann startete sie eine Aufholjagd, mobilisierte alle Kräfte („Ich hab am Ende nur noch Sterndl gesehen“), vor dem letzten Anstieg musste sie noch die bis dahin drittplatzierte Teamgefährtin Martina Beck (früher Glagow) überholen, um ihr Bronze zu entreißen. „Als ich an Martina vorbeigezogen bin, hat sie geschrien: Uschi, hol dir die Medaille! Das war schon eine großartige Geste, das rechne ich ihr heute noch hoch an.“

So richtig heil war die olympische Welt aber schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ein Jahr später wurden die Winterspiele nach Sotschi vergeben. „Es ist traurig, dass Olympische Spiele gekauft werden“, sagt Uschi Disl, „Sotschi wäre nie Olympiaort geworden, wenn da nichts gelaufen wäre – das behaupte ich jetzt einfach.“ Auch sonst bringt die Ex-Sportlerin Verständnis für die Olympia-Kritiker auf. „Warum kann man nicht die Anlagen nutzen, die da sind?“, sagt sie, „so eine neue Bobbahn bedeutet doch einen schweren Eingriff in die Natur.“ Auch die Kosten hält sie für viel zu hoch: „Die Leute sagen sich doch: Die Kassen sind eh schon leer – warum muss man sich da noch Olympische Spiele antun?“ Doch aus der Sicht der Aktiven, so Uschi Disl, üben die fünf Ringe immer noch ihren speziellen Reiz aus: „Die Magie von Olympia ist immer noch da. Und wenn man als Sportler auch noch eine Medaille holt, ist das der helle Wahnsinn.“

Uschi Disl selbst hat inzwischen Abstand gewonnen zur großen Welt des Sports. Ihr Lebensmittelpunkt ist ein über 100 Jahre altes Holzhaus im schwedischen Mora. Sie lebt dort idyllisch am See mit ihrem Lebensgefährten Tomas Söderberg, früher Skitechniker der Biathlon-Legende Ole Einar Björndalen, und den Kindern Hanna, 11, und Tobias, 8. „Die Prioritäten haben sich geändert“, sagt sie. Auch wenn immer noch eifrig gesportelt wird. Tochter Hanna übt sich sogar im Biathlon, schießt mit dem Wettkampfgewehr der Mama, skatet gerne auf Skiern. „Sie macht das alles sehr gern – aber sie hat null Ehrgeiz, sie mag keine Wettkämpfe.“

Und auch der kleine Tobias hat offenbar nicht so ganz den Kampfgeist der Mama geerbt. Er spielt gerne Fußball, macht Leichtathletik und Skilanglauf. „Er möchte zwar gewinnen – aber nichts dafür tun.“ Mit einer Fortsetzung der Sporttradition wird es also im Hause Disl nichts werden. „Ich zwinge meine Kinder zu nichts“, sagt Uschi Disl, „ich will nur, dass sie Sport machen.“ Und da hat sie schon Recht, die Uschi: Es muss nicht immer Olympia sein.

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