Wahl des Ministerpräsidenten

Am Ziel

von Redaktion

VON C, Deutschländer, M. Schier UND S. Dorn

München – Als er ankommt am Ziel seiner Träume, wartet eine unangenehme Überraschung. „Ein harter Stuhl“, murmelt Markus Söder verdutzt und streckt den Rücken durch im Chefsessel der Staatskanzlei. Naja, wenigstens keine Reißzwecke auf dem schwarzen Polster, versehentlich vom Vorgänger vergessen, sondern ein besenreines, fast kahles Büro. Seehofers hässliche goldgrüne Tischlampe ist noch da, ein leerer Bilderrahmen und eine Kaffeetasse mit Stiften.

Söder legt seine Bibel so auf den Tisch, dass jeder Fotograf sie sehen kann. Dann klappt er die Aktenmappe auf und schreibt etwas, was ihm sehr am Herzen liegt: Söder. Söder. Söder. 16 Briefe an die Minister und Staatssekretäre unterzeichnet er, in denen er sie bis auf Weiteres mit der Fortführung der Geschäfte betraut. „Bayern ist wieder geschäftsfähig“, sagt er dann und klappt die Mappe zu.

Das Polster bleibt die einzige Härte an diesem denkwürdigen Tag, an dem Bayern einen neuen Ministerpräsidenten bekommt. Eigentlich wird Söder sogar samtweich in das Amt getragen, um das er sein ganzes politisches Leben gekämpft hat. Wundersame Szenen spielen sich in diesen Stunden ab. In der offenen Pforte der Staatskanzlei, deren leitendes Personal sich jahrelang mit Händen und Füßen gegen Söder gewehrt hatte, stehen die Amtschefin und Minister Marcel Huber mit offenen Armen und einem Blumenstrauß. „Willkommen in Deiner Staatskanzlei“, sagt Huber. „So“, sagt Söder.

Auf den Treppen der Regierungszentrale schubsen sich Kamerateams um die besten Bilder, wenn Söder den vierten Stock erklimmt. Er bleibt mehrfach stehen, damit sie ihn auch ja ausgiebig filmen können. Und kurz zuvor im Landtag, bei der geheimen Wahl des Ministerpräsidenten, beschriftet Horst Seehofer seinen Wahlzettel so demonstrativ mit Söders Namen, dass auch in den hinteren Reihen der Pressetribüne keine Zweifel aufkommen, dass es sich hier um seine immer schon erträumte Wunschlösung für die Nachfolge handeln muss.

Ja, dieser Tag ist eine einzige große Inszenierung mit ein paar hundert Statisten und einem Hauptdarsteller. Es beginnt schon lange vor der entscheidenden Sitzung des Parlaments. Frühmorgens bittet Söder in den sozialen Netzwerken um Rat, welche Krawatte er anziehen soll (und entscheidet sich dann für die andere). Auch später ist jeder Schritt durchchoreografiert, kleine und große Gesten. In eine Sitzung seiner CSU-Fraktion tritt Söder betont demütig. „Heute geht es nicht um mich, sondern um uns alle“, zitieren ihn Teilnehmer. „Ich bitte heute einfach um eine Chance.“ In einer ersten Probeabstimmung wählen sie ihn alle, offen per Akklamation.

Für ein paar Fotografen tritt er wenig später auf die Terrassen des Landtags. Sein Blick schweift an der Balustrade über kahle Bäume, Isar und Lehel zur Frauenkirche in der Ferne. Ein paar Sekunden verweilt er – wie ein Regent, der über sein Reich blickt. „Super Fotos“, flüstert ein Fotograf. Das ist bei Weitem kein Zufall, die Presse hat Söder auch nicht dazu gedrängt. Er macht das freiwillig, weil er die Wirkungen von Bildern kennt wie kaum ein anderer. Seht her, ich bin angekommen. Für wenige Augenblicke an diesem Tag ist es leise, nur der kalte Wild pfeift und sein Anzug flattert. Dann geht er schnell wieder rein, neue Interviews, mehr Fotos. Selbst gestandene Abgeordnete stellen sich für ein Selfie mit dem Ministerpräsidenten artig in die Schlange.

Ein schwerer Gang wird auch die Plenardebatte nicht, die rituelle Aussprache mit der Opposition – die CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer später zurecht als „keine Sternstunde“ des Parlaments bezeichnet. Am besten macht es noch SPD-Chefin Natascha Kohnen, die etwas staatstragend beginnt, dann angriffslustiger wird. Sie zählt Anforderungen an einen guten Ministerpräsidenten auf – dass er der Versuchung des Populismus widersteht und gute Vorschläge umsetzt, auch wenn sie von der Opposition kommen. Dann meldet sie Zweifel an, ob Söder dem gerecht wird: „Es gibt keine Amnestie für Sünden der Vergangenheit – und Sie haben eine Menge im Gepäck“, sagt Kohnen.

Das war es dann auch an Debatte. Hubert Aiwanger verliert sich in einer Aufzählung von Begegnungen mit Bürgern, die Probleme beklagen – Hebammen, Schlachter, Hausärzte. Unmittelbar mit der „Aussprache über die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten“ hat das wenig zu tun. Auffällig: Für Seehofer hat Aiwanger, der sich zuletzt offensiv als nächster Koalitionspartner angedient hat, nur Lob übrig. Im Vergleich dazu ist Ludwig Hartmann deutlich kritischer. Der nach einer schweren Erkältung noch angeschlagene Grünen-Fraktionschef wirkt allerdings ungewohnt fahrig. Vom „unterschiedlichen Stil“ spricht Landtagspräsidentin Barbara Stamm, ohne werten zu wollen. „Das muss jeder selbst reflektieren“, sagt Stamm.

Söder ignoriert die Redner der Opposition. Er blickt geradeaus auf die leere Holzwand des Plenarsaals, nach 60 Minuten Debatte muss er dort jede Maserung auswendig kennen. Er hat sich im Griff, auch als Hartmann ihm vorwirft, Söders „rückwärtsgewandter Konservatismus“ sei „so sexy wie eine Vokuhila-Frisur“.

Der unverstellte Söder blitzt an diesem Tag nur für Sekunden durch, wenn man sehr genau hinsieht. Die Stimmabgabe, als er aufspringt, als erster von allen 180 Abgeordneten zur Urne läuft, um sich selbst zu wählen. Dann in den quälend langen Minuten, als er im Plenarsaal auf das Ergebnis wartet. Erst reglos, dann zunehmend nervös sitzt er am Platz, die Beine wippen, immer öfter greift er zum Handy. Und die Sekunde, als die Präsidentin das Ergebnis verliest, 99 Stimmen, also mutmaßlich jede von der CSU: Da bewegen sich seine Kiefermuskeln, die Lippen presst er zusammen, die Hände patschen einmal triumphierend aufs Pult. Eine Sekunde später ist er wieder der Staatsmann, erhebt sich, nickt huldvoll zur Präsidentin, zur Ehrentribüne, zur CSU-Fraktion. Und schnauft kräftig durch.

Seine Antrittsrede hält er kurz, jedes Wort sorgsam überlegt und handschriftlich auf gefalteten Zetteln notiert. Dosierte Emotion („Ich gebe zu, ich bin etwas ergriffen“), dosierte Demut („Ich will mich um die großen Linien sorgen, aber auch um die kleinen Sorgen der Leute kümmern“). Dosierte Inhalte sowieso. Nach Ostern will er eine erste Regierungserklärung halten. Das Zehn-Punkte-Programm, das er in Banz bei der Fraktionsklausur vorgestellt hatte, muss mit Leben erfüllt werden. Die Fraktion erwartet nach monatelangem Stillstand nicht weniger als ein kleines Feuerwerk. Auch in den Personalfragen ist zuletzt der Druck gewachsen, ein größeres Signal des Aufbruchs zu setzen. Offenbar werden mehrere Ministerien neu besetzt, wobei vor allem die Oberbayern einen adäquaten Ausgleich für den wegfallenden Posten des Ministerpräsidenten einfordern.

In der Eingangshalle des Landtags spielt eine Blaskapelle danach den Bayerischen Defiliermarsch, also das Lied, das protokollarisch dem Ministerpräsidenten vorbehalten ist. Für Söder wurde das schon öfter gespielt, was ihn noch nie störte. Nun nickt er huldvoll, wie er es bei dem Marsch immer tut, und grüßt in die Runde. „Endlich“, sagt er und macht eine Kunstpause. „Endlich gibt es damit kein Problem mehr.“

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