Zum Weltgesundheitstag

Der Arzt für alle Fälle

von Redaktion

Von Kathrin Brack

Saulgrub – Das Schild ist knallrot und baumelt unheilvoll neben der Tür. „Praxis überfüllt! Bitte nur Notfälle“ steht da. Hinter der Tür drängen sich zwischen dem kleinen Vorraum und dem Tresen aus hellem Holz ein Dutzend Menschen. „Ich hab das Schild heut früh rausgehängt, aber die Leut’ hören natürlich nicht auf mich“, sagt Dr. Thomas Autenrieth und schmunzelt, während er zwischen den beiden Behandlungszimmern hin und her pendelt. Unser Termin in der kleinen Praxis in Saulgrub im Kreis Garmisch-Partenkirchen liegt mitten in der Grippe-Saison. Autenrieth, 51, Brille, schwarz-weißes Karo-Hemd zur weißen Hose, das Stethoskop um den Hals, ist seit über 20 Jahren Arzt. Er selbst nennt sich Landarzt. Oder Familienarzt. Vom kleinsten Wuzl bis zum Uropa verarztet Autenrieth jeden und alles, vom Schnupfen bis zur Psychose.

Seine Patienten behandelt der Herr Doktor, so sagt man das respektvoll auf dem Land, mit Fachwissen und einer gewinnenden Mischung aus Höflichkeit und Humor. Die Praxis mit Blick aufs Hörnle und die Ammergauer Alpen ist nicht nur wegen der vielen Bilder der „Peanuts“ an den Wänden oder den großen Gläsern voll Gummibärchen ein freundlicher Ort. „Da kommt einer mit einer Sprunggelenkverletzung“, sagt der Doktor, „und beim Reden merkst du, dass er grad von seiner Freundin verlassen wurde, betrunken war und sich deshalb verletzt hat.“ Zuhören ist manchmal noch wichtiger als Anschauen.

Autenrieth, vierfacher Patchwork-Papa und Altherren-Fußballer, hat keinen Beruf, er hat eine Berufung. Früher wollte er Sportjournalist werden. Als klar war, dass er Arzt wird, wollte er erst ins Ausland, doch aus einer langfristigen Anstellung in Indien wurde nichts. Also setzte er seinen Ersatzplan um und ließ sich in Oberbayern nieder. Hier ist er Hiesiger und Zuagroaster zugleich: Geboren in Weilheim, die Mutter aus Garmisch-Partenkirchen, aufgewachsen in der Nähe von Stuttgart – ein leichter Akzent und seine Leidenschaft für den VfB verraten es. 2004 eröffnete er seine erste Praxis im Nachbarort Bad Bayersoien. Seit 2009 praktiziert er in Saulgrub. Die kleine Gemeinde, 1700 Einwohner, und ihr Bürgermeister Rupert Speer haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Arzt im Ort zu haben. Sie erweiterten sogar das Gemeindehaus, an dessen Fassade in riesigen Buchstaben „Arztpraxis“ steht.

Autenrieth behandelt hier mit seinem Team, das aus seiner Frau Britta, vier Arzthelferinnen und Praxishund Jacques besteht, pro Quartal etwa 1200 Patienten. Mehrere tausend Menschen aus dem Ammertal sind im System gelistet. Bis vor Kurzem war eine Ärztin mit in der Praxis. Aktuell muss der Landarzt die Termine wieder allein stemmen, im Spätsommer kommt die ersehnte Verstärkung.

Die Praxis ist eine akademische Lehrpraxis, Autenrieth hat regelmäßig Studenten der beiden Münchner Universitäten da, die ihm über die Schulter schauen – und dabei auch sehen sollen, dass der Alltag als Landarzt wenig mit Idylle zu tun hat. Mit einer Studentin erlebte der Arzt einen heftigen Tag. Frühmorgens mussten sie zu einem Landwirt mit Herzrasen, eine seiner Kühe hatte eine Frühgeburt gehabt. Der Kadaver des Kälbchens lag noch neben der Haustür. „Der ganze Tag war ein einziges Spektakel“, erinnert sich Autenrieth. Er endete mit einem Besuch bei einer psychisch kranken Frau mit Bronchitis und unter Drogeneinfluss in einer Grufti-WG im Nachbarort. „Die Studentin saß am Ende im Auto und hat Rotz und Wasser geheult. Die hat das nicht gepackt.“

Landarzt zu sein ist nicht nur schön – und trotzdem für Autenrieth ein Traumberuf. Darum wirbt er dafür. Er würde gern noch einen oder zwei junge Ärzte einstellen, das Angebot ausbauen, noch mehr Zeit für die Patienten haben. Er arbeitet dabei gegen harte Fakten an: Hausärzte sind nicht die Großverdiener des Gesundheitssystems. Auch wenn Thomas Autenrieth seinen Verdienst als gut bezeichnet: So lohnend, dass er noch jemanden zu einem guten Gehalt einstellen könnte, ist eine Hausarztpraxis nicht.

„Es ist ja nicht so, dass es hier nur darum geht, der romantische, nette Hausarzt zu sein“, sagt er. „Nett sein allein reicht nicht. Wir müssen richtig gute Mediziner sein.“ Der Hausarzt begleitet die Patienten weiter, wenn sie vom Facharzt oder aus der Klinik kommen, er muss sich auskennen, sei es in der Krebstherapie oder in der Orthopädie. Die Allgemeinmedizin gilt unter Ärzten nicht umsonst als Königsdisziplin.

Dazu kommt, dass das Pensum hoch ist, die Wochenarbeitszeit liegt bei Thomas Autenrieth bei 50 bis 60 Stunden. „Es waren auch schon deutlich mehr“, sagt er. Das tat ihm und der Familie nicht gut. Heute achtet der Mediziner auf Ausgleich, die Freizeit gehört der Familie. „Das Privatleben eines Landarztes muss stabil sein, damit er sich gut um seine Patienten kümmern kann“, findet er. Er folgt einem jahrtausendealten Leitspruch, den er sich ins Behandlungszimmer gehängt hat: „Die wichtigste Aufgabe eines Arztes: Zuerst die eigene Seele heilen und sich um sich selbst kümmern, bevor er versucht, anderen zu helfen.“

Vier Vormittags- und drei Nachmittagssprechstunden bietet Autenrieth werktags an, dazu kommen pro Woche bis zu zehn Hausbesuche und seine monatliche Runde, auf der er nach einigen älteren Patienten schaut. Thomas Autenrieth begleitet seine Patienten bis zum Tod, er ist Palliativmediziner. Gerade ist ein langjähriger Patient gestorben, ein 90-Jähriger, der immer mit dem Traktor kam. „Das ist traurig, und trotzdem – auch wenn das unpassend klingen mag – bin ich froh.“ Denn seine Arbeit vor Ort hat es möglich gemacht, dass der Mann daheim bei seinen Töchtern sein durfte, wie er es sich gewünscht hat. Als er starb, riefen ihn die Töchter an, Autenrieth fuhr zur Familie, man umarmte sich. Die Familie war dankbar.

Dankbarkeit ist etwas, das auf keiner Abrechnung der Krankenkasse steht. Sie zeigt sich, wenn Patienten wie Martina Sörgel und ihre Kinder in die Praxis kommen. Die Altenauerin und ihre gesamte Familie sind hier Patienten. Während der zweiten Schwangerschaft betreute Autenrieth die junge Mutter. Heute hat Emilian, 8, Ohrenschmerzen, ein Virus-Infekt. Die Mama ist besorgt, ob ihre Zwiebelwickel den Buben unnötig quälen. Einen soll Emilian noch aushalten, sagt der Arzt, dafür dürfen er und seine Schwester Eva, 6, auch ins Gummibärchenglas greifen.

Natürlich ist da nicht immer nur Dankbarkeit. Aber Thomas Autenrieth hat seine eigene Art, auch schwierige Situationen zu meistern: Er scherzt und lacht viel. Der Doktor hat ein Schild im Wartezimmer aufgehängt, auf dem steht, wen er bevorzugt behandelt. Eine lange Liste: Privatpatienten, Anhänger des VfB Stuttgart, AOK-Patienten, Kinder, Rothaarige, Alleinerziehende, Franken, Moslems, Hindus und Buddhisten, Elche, schlechte Schüler, Gartenzwerge, DAK-Patienten, Landwirtinnen, Katzenliebhaber, Holländer, König-Ludwig-Fans, Österreicher…

„A Witzle halt“, sagt der Arzt. Damit die Patienten was zum Schmunzeln haben, auch an Tagen, an denen sie sich zwischen Tür und Tresen drängen.

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