Wolfgang Keil schlägt Alarm

Die Rechtsmedizin am seidenen Faden

von Redaktion

Von Angela Walser

München – Dr. Wolfgang Keil ist ein Typ wie der Fernseh-Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne aus dem Münsteraner „Tatort“. Er ist feinsinnig, umgibt sich gerne mit schönen Dingen, schwärmt für klassische Musik, gutes Essen und Rosen. Sein Steckenpferd ist Tanzen. „Da wäre ich gerne Profi geworden“, sagt der 67-Jährige, der regelmäßig an den großen Wiener Bällen teilnimmt.

Wie sein Fernseh-Pendant Boerne trägt er einen Professoren-Titel. Mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers, der Boerne mimt, verbindet ihn die Herkunft aus dem Osten Deutschlands. Mittlerweile ist Keil emeritiert, doch die Rechtsmedizin lässt ihn nicht los. Soeben hat er sein beliebtes Fachbuch „Basics“ für Studenten komplett überarbeitet. Es ist seit Jahren ein Renner in der Rechtsmedizin, auch für Kriminalpolizisten und Juristen. Die vierte Auflage soll heuer erscheinen. Die leicht verständliche Darstellung im Buch wurde bereits von einem anderen Medizin-Verlag kopiert.

Doch bei allem Erfolg verliert Keil nicht den Blick für die aktuelle Situation seines Berufes. Dessen Zukunft malt er äußerst dunkel. Im Nachbarland Österreich zum Beispiel gibt es bereits keine eigenständige universitäre Lehre im Fach Rechtsmedizin mehr. Folglich mangelt es an Nachwuchs. Leitende Posten besetzen mittlerweile Sachverständige aus Deutschland. Hier gibt es nach wie vor die Weiterbildung zum Facharzt der Rechtsmedizin. Sie dauert fünf Jahre. Innerhalb des Humanmedizin-Studiums muss jeder Student ein Semester lang Rechtsmedizin belegen. So verlangt es die Studienordnung. Es ist ein Prüfungsfach, das heißt, im Staatsexamen wird das Sachgebiet abgefragt. Eben diese Gesetzeslage ist der seidene Faden, an dem die deutsche Rechtsmedizin noch hängt. Sie kann als eine staatliche Hoheitsaufgabe nicht komplett in die Privatisierung abrutschen.

Dennoch ist auch in Deutschland die Lage nicht unproblematisch, denn die Zahl der Weiterbildungsstellen zum Facharzt ist an den Universitäten viel zu gering. Einzelne Kliniken haben keine Vorliebe für die Rechtsmedizin. Der Grund ist ein finanzieller. „Für Leichen interessiert sich keine Krankenkasse“, sagt Keil. „Die bringen nichts ein“, fügt er hinzu. Aus ökonomischen Gründen wurden in Deutschland bereits etliche rechtsmedizinische Institute geschlossen, wie Aachen und Tübingen, oder zusammengelegt, wie Lübeck und Kiel, Magdeburg und Halle. Zusatzuntersuchungen, zum Beispiel DNA-Typisierungen oder chemisch-toxikologische Analysen, übernehmen zunehmend private Großlabore. Die Zeiten, da ein Rechtsmediziner sämtliche Beweise zur Aufklärung eines Mordfalls lieferte, gibt es nur noch in den Fernsehkrimis.

Wolfgang Keil zufolge sind in Deutschland derzeit 262 Ärztinnen und Ärzte in der Rechtsmedizin tätig. Das bedeutet rechnerisch einen Sachverständigen auf rund 315 000 Menschen. Aus Keils Sicht viel zu wenige. Zudem gibt es große regionale Unterschiede. In einigen Gegenden sind die Institute weit voneinander entfernt, ein flächendeckendes Netz dieser Einrichtungen existiert nicht.

Das mag auf den ersten Blick kein wirklich lebensbedrohlicher Mangel sein, doch die Gefahr, dass Straftaten gegen Leben und Gesundheit nicht aufgedeckt werden, vergrößert sich. Das kann auch Professor Wolfgang Eisenmenger, 73, früherer Institutsleiter der Münchner Rechtsmedizin, nur bestätigen. Den Hauptgrund für das schwindende wissenschaftliche Interesse am Fach sieht Eisenmenger allerdings weniger in der drohenden Privatisierung als in den eingeschränkten Zukunftsaussichten für junge Ärzte. „Durch die wenigen Institute ist eine Universitäts-Karriere kaum möglich“, sagt er und fügt hinzu: „Man kann sich schwer niederlassen und wenn, dann ist man auf wenige Dienstleistungen beschränkt.“

Etwas über 16 000 Obduktionen hat Dr. Wolfgang Keil in 42 Berufsjahren durchgeführt. Immer wieder hat ihn die Tragik hinter den Verstorbenen berührt (siehe auch Artikel unten). „Ich habe schlimme Szenen in der Rechtsmedizin erlebt“, sagt er rückblickend. Einige Male habe er sogar weinen müssen. Zum Beispiel 2013 beim immer noch ungeklärten Isarmord an dem italienischen Ingenieur Domenico L. Als Keil den Verwandten den Leichnam zeigte, mussten sie so heftig weinen, dass auch dem Rechtsmediziner die Tränen über die Wangen liefen. „Wenn ich an die Szene denke, weine ich immer noch“, sagt Keil und seine Stimme beginnt zu kippen. Mitgenommen hat ihn auch das Schicksal einer Kinderärztin, der es nicht gelungen war, ihr eigenes Kind zu reanimieren. „Sie kam zu uns und wollte wissen, was sie falsch gemacht hätte. Aber sie hatte alles richtig gemacht. Drei Wochen später lag sie tot vor mir, sie war vom Dach gesprungen. Da kamen mir die Tränen“, sagt Keil.

Dass die Rechtsmediziner in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit rückten, ist nicht nur der modernen DNA-Spurenauswertung zu verdanken, sondern auch einer populären US-Fernsehkrimi-Serie um die Figur des ermittelnden Rechtsmediziners Quincy. Sie begeisterte von 1976 bis 1983 die Zuschauer. In Deutschland verkörperte 1997 der Arzt und Schauspieler Joe Bausch den ersten Rechtsmediziner in einem „Tatort“. Danach schuf sich jede ARD-Station ihren eigenen Rechtsmediziner, das war der Durchbruch.

In Deutschland trug ebenfalls der frühere Münchner Institutsleiter Professor Wolfgang Eisenmenger zur wachsenden Popularität der Rechtsmedizin bei. Mit seinen anschaulichen Vorträgen, gespickt durch humorvolle Anekdoten, machte er die Rechtsmedizin für jedermann interessant, nahm ihr das Gruselige und öffnete sie so einem breiten Publikum. Keil lernte Eisenmangel erstmals im Osten kennen, wo der Münchner Professor noch zu DDR-Zeiten mit einem gewichtigen Rechtsmedizin-Preis geehrt wurde. Es sollten Jahre vergehen, bis Keil nach München fand, nachdem er sich im Rahmen einer Expertentagung in den Westen abgesetzt hatte. Inzwischen bereichert er selber die Münchner Rechtsmedizin, ganz besonders auch durch seine Vorlesungen im Klinikum rechts der Isar, die er mit Lehrauftrag über 20 Jahre gehalten hat.

„Tatortabende“, bei denen Keil mit den Studenten den rechtsmedizinischen Wahrheitsgehalt der Krimifolgen analysiert, finden auch heute noch regen Zuspruch. Sie werden von der Fachschaft organisiert: Die Studenten bestimmen den Termin, dann wird der Experte dazu eingeladen. Am Abend wird das Fernsehprogramm an die Leinwand des großen Hörsaals projiziert. Dort passen 400 Zuschauer hinein. Dann wird der „Tatort“ live angeschaut. Anschließend beginnt bei einem Bier die Diskussion und Keil erklärt, inwiefern der Part des Rechtsmediziners im Film ordentlich umgesetzt wurde oder ob es ein ziemlicher Schmarrn war. „So ein Fernsehkommissar bekommt sicher eine große fünfstellige Summe für einen Dreh“, sagt Keil und schmunzelt etwas spitzbübisch: „Für 300 Euro würde ich die Fernsehleute gut beraten und den ganzen Film auf richtige Füße stellen.“

Mit diesen „Tatort“-Abenden hat er die Hörsäle stets gut gefüllt. Beim letzten Mal kamen 200 Studenten. Wenigstens hier ist die Rechtsmedizin noch ein unumstrittener Renner.

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