Eurovision Song Contest

Ein Wettsingen mit vielen Wundern

von Redaktion

Michael Schulte verzückt Europa und landet überraschend auf Platz 4 – Netta Barzilai gewinnt haushoch überlegen

Von Jörg Heinrich

München/Lissabon – „Germany, twelve points! Deutschland, zwölf Punkte!“ Seit 2010, seit Lena Meyer-Landrut in Oslo mit „Satellite“ den Eurovision Song Contest gewonnen hat, war diese frohe Botschaft beim größten Wettsingen der Welt nicht mehr zu hören. Das änderte sich am Samstag in Lissabon – und zwar gleich mehrfach. Sechsmal zwölf Punkte für Michael Schulte und seine Ballade „You Let Me Walk Alone“. Damit holte der 28-Jährige aus Buxtehude sensationell Platz 4. Und zum Drittplatzierten, zum Österreicher Cesár Sampson, fehlten ihm mit 430 Zählern nur zwei Punkte. Star des Abends war aber die ebenso wilde wie bunte Netta aus Israel, die mit ihrer feministischen Hip-Hop-Hymne „Toy“ 529 Punkte und den ersten Sieg seit 1998 für ihr Heimatland holte. Ein Überblick über die ESC-Nacht:

Das deutsche Wunder von Lissabon

Wenigstens Drittletzter werden, und damit besser abschneiden als seine drei Vorgängerinnen – mit diesem Minimalziel war Michael Schulte nach Portugal gereist. Man ist bescheiden geworden in ESC-Deutschland. Denn nicht einmal die heimischen Musikfans mochten seinen am Reißbrett entstandenen Song, in den deutschen Charts reichte es nur zu Platz 27. Doch Europa hat sich in den Wuschelkopf verliebt, der in Lissabon ganz allein, ganz zerbrechlich auf der Bühne stand. Viermal zwölf Punkte von den Jurys aus Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und der Schweiz, dazu zweimal die volle Punktzahl von den Zuschauern aus Dänemark und den Niederlanden – das sorgte fürs „Wunder von Lissabon“. „Wir haben an die Kraft des Künstlers und an die Inszenierung geglaubt“, jubelte Thomas Schreiber, viel gescholtener ESC-Chef der ARD, der mit seiner Taktik, einen deutschen Ed Sheeran nach Portugal zu schicken, diesmal genau richtig lag.

Netta – die Siegerin von Lissabon

Die 25-Jährige Netta fand die schönsten und wichtigsten Worte des Abends. „Danke, dass Ihr Euch für die Vielfalt entschieden habt“, jubelte die Israelin, die vor dem Wettbewerb mit Hassbotschaften homophober und antisemitischer Gruppen zu kämpfen hatte. Netta ließ sich nicht beirren, sang und gackerte ihren Hit „Toy“, in dem sie, passend zur #MeToo-Debatte, klarstellt, dass sie als Frau nicht das Spielzeug irgendwelcher dummer Jungs ist. Der mutigste, witzigste und einfallsreichste Song des ESC hat gewonnen – fast 100 Punkte vor der hüftschwingenden Mittelmeer-Shakira Eleni Foureira aus Zypern.

Salvador – der Held von Lissabon

Vorjahressieger Salvador Sobral rührte ganz Europa. Sechs Monate nach seiner Herztransplantation stand der 28-Jährige erstmals wieder auf der Bühne und sang noch einmal sein Siegerlied „Amar pelos dois“. Sobral, der bereits vor einem Jahr schwer krank war, wirkte vergnügt und viel gesünder als bei seinem Sieg in Kiew. Ein wunderbarer Auftritt.

Der Ärger von Lissabon

Die Wertungen der Jurys und der Zuschauer, die jeweils zu 50 Prozent zählen, lagen teilweise wieder meilenweit auseinander. So vergab die deutsche Jury (unter anderem mit Mary Roos und Max Giesinger) unerklärliche zwölf Punkte für den schwedischen Plastikpop, aber nur einen Punkt für Israel. Bei den deutschen Zuschauern lagen dagegen die großartigen Italiener Ermal Meta und Fabrizio Moro vor Israel auf Platz eins. Nicht nur ARD-Kommentator Peter Urban wunderte sich: „Darüber denkt man mal nach.“ Die Debatte, ob die Einflussnahme zweifelhaft besetzter Jurys auf das Ergebnis zu groß ist, ist längst eröffnet.

Der Skandal von Lissabon

Ein Krawallmacher, der schon in der UK-Ausgabe von „The Voice“ auf die Bühne gesprungen war, entriss der britischen Sängerin SuRie bei ihrem Auftritt das Mikro und rief Hassbotschaften gegen die Medien. Die 29-Jährige sang nach wenigen Augenblicken ungerührt weiter. Die Veranstalter boten ihr an, nochmals aufzutreten. SuRie verzichtete aber – und landete trotz ihrer Nervenstärke nur auf Platz 24.

Die Quote von Lissabon

7,71 Millionen Zuschauer sahen den ESC im Ersten – eigentlich eine Top-Quote. Die 14,69 Millionen Zuschauer von Lenas Triumphs in Oslo sind aber weit weg. Doch ESC-Chef Thomas Schreiber hofft auf neue Eurovisions-Begeisterung in Deutschland: „Wir müssen schauen, dass wir dieses Ergebnis in den nächsten Jahren stabilisieren.“

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