Morandi-Brücke eingestürzt

Genuas große Katastrophe

von Redaktion

von Julius Müller-Meiningen

Genua – Der blaue Lkw mit der grünen Plane steht immer noch da. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund auf. Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbrach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-jährige Fahrer des Lkw nach dem Unglück, bei dem mindestens 39 Menschen am Dienstag ihr Leben verloren haben, erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht trifft. Dass diese Autobahnbrücke in sich zusammen fiel wie ein Kartenhaus, ist kaum als Zufall zu bezeichnen.

Luigi bremste, dann sah er, wie vor ihm dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsgang ein, stieß die Fahrertür auf und rannte zurück. Der Motor lief noch, Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt.

In Italien ist das Unvorstellbare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem sich das halbe Land in Bewegung setzt, um das Mittsommernachtsfest Ferragosto im Kreis der Familie zu feiern, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbrücke bei Genua ein. Auch Urlauber aus Deutschland sind in diesen Tagen unterwegs. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt bei Genua auf der A 10 zwischen Flughafen und Hafen. Nun endet die Fahrbahn brüsk in der Luft.

Neben den bislang 39 Toten melden die Behörden 16 zum Teil Schwerverletzte, wobei fünf Leichen noch nicht identifiziert werden konnten. Die Feuerwehr sucht mit Hunden, obwohl es kaum Hoffnung auf Überlebende gibt. Mehr als 30 Autos und drei Laster sollen wie Spielzeug in die Tiefe gestürzt sein und begruben Menschen unter sich. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedeltes Industriegebiet, sonst hätte es wohl noch mehr Opfer gegeben.

„Nein“, sagt Oberstaatsanwalt Francesco Cozzi am Mittwoch sehr bestimmt auf die Frage von Journalisten in Genua, ob es sich bei dem Einsturz um ein zufälliges, fatales Schicksalsereignis, eine „fatalità“ handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen Unbekannt. Denn es scheint eindeutig, dass menschliche Nachlässigkeit die 1967 eingeweihte und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat.

„Brücken stürzen nicht zufällig ein“, behauptet der aus Genua stammende italienische Star-Architekt Renzo Piano. „Sie sind Symbole.“ Man kann hinzufügen: Der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua ist auch ein Symbol für die Nachlässigkeit Italiens mit sich selbst. Denn wer das Land in diesen Jahren erlebt und beobachtet, wundert sich kaum noch über derartige Ereignisse.

Genua und Ligurien waren in den vergangenen Jahren Schauplatz verheerender Überschwemmungen, die der Natur angelastet werden, aber durch Klimawandel und Bauwut auch menschengemacht sind. In Rom gehen wöchentlich Busse wegen mangelnder Wartung in Flammen auf, es gibt eine Autobahnbrücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleistet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzgefährdet.

Viele von ihnen sind völlig überlastet. In den letzten Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Wenige Menschen starben, deshalb gab es kaum Schlagzeilen. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt ist dem enormen Verkehrsaufkommen längst nicht mehr gewachsen.

5000 Laster sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal so viel wie vor 30 Jahren. Seit Jahren wird über die Empfindlichkeit der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche, wie Antonio Brencich von der Universität Genua, sahen die Tragödie kommen. „Bisher wurde so viel Geld in die Reparaturen gesteckt, wie ein kompletter Neubau gekostet hätte“, sagt er. Bereits vor zwei Jahren hat der Fachmann ein Interview gegeben und zum Neubau der Brücke aufgerufen.

Nun beginnt die Jagd nach den Schuldigen. Die Verantwortlichen der Autobahngesellschaft Autostrade d’Italia stehen ganz oben auf der öffentlichen Abschussliste. Auch von großen Infrastruktur-Plänen ist in Italien nun die Rede, von systematischen Untersuchungen bei Brücken, Tunnels und Viadukten.

Über Genua wurde am Mittwochabend ein zwölfmonatiger Ausnahmezustand verhängt. Bei einer Krisensitzung des Ministerrates in der Hafenstadt sei außerdem eine Soforthilfe von fünf Millionen Euro freigegeben worden, sagte Ministerpräsident Giuseppe Conte. Er schrieb auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“ Italien könne sich keine weiteren Tragödien wie diese erlauben, schrieb er. Es klang eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugung.

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