München – Diese Geschichte hat ein Happy End. Davor ist sie frustrierend, berührend und traurig. Es ist die Lebensgeschichte von Andreas Vega. Wer ihn beschreibt, beginnt nicht mit Haar- oder Augen-farbe – sondern mit einer Diagnose: spinale Muskelatrophie. Muskelschwund. Lähmungen. Rollstuhl. 24-Stunden-Assistenz. Aber, ach: Er ist auch ein Mensch. Und hat körperliche Bedürfnisse. Andreas hat Lust auf Sex. Er grinst, wenn er das erzählt. Doch seine blauen Augen verraten ihn: Hinter dem Lachen verbirgt sich Scham.
Behinderte Menschen haben keine Sexualität. Jedenfalls wenn es nach der Meinung vieler Einrichtungen geht, in denen sie untergebracht sind. Das hat Andreas früh gelernt. Heute ist er 58 Jahre alt und lebt in München, Erdgeschoss, barrierefrei. Wer ihn besucht, hört zuerst das Bellen von Hündin Berta, sieht ihren Schatten hinter der gläsernen Eingangstür. Mit dunklen Augen schaut sie, wer vor Herrchens Zimmer steht. Berta benötigt Zeit, um Vertrauen zu fassen.
Ihr Herrchen ist da anders. Der erzählt offen drauflos. Über sein Leben als behinderter Mensch, als einer, der „praktisch gar nichts kann“. In seiner Kindheit und Jugend die gewöhnliche „Heimkarriere“: Sonderheim, Sonderschulen, Sonderwohngemeinschaft. Normal fühlte er sich nie. Wie sollte jemand wie er eine Freundin finden? In dem Internat, das er besuchte, gab es eine räumliche Trennung: zwischen Behinderten, die körperlich relativ unabhängig waren, und denen, die für alles Hilfe benötigten. „Bei den Unabhängigeren lief mehr zwischen Jungs und Mädels – da war ich fast immer ausgeschlossen. Es gab mal Knutschereien oder so, aber keine sexuellen Kontakte.“ Doch das Bedürfnis, das war da. Wenn er eine Praktikantin mal wieder zu sehr anstarrte, dann wurde das nicht als Zeichen für seine Sehnsucht gewertet, sondern abgestraft. Ernstes pädagogisches Gespräch, wieder Ruhe im Karton.
Deva Bhusha macht das sauer. Das Wegschauen vieler Betreuer – als ob mit körperlicher oder geistiger Behinderung keine Lust mehr da sei. Deva weiß, dass das nicht stimmt. Sie geht zu Menschen wie Andreas. Nicht, um sie zu waschen, ihnen auf die Toilette zu helfen oder ihnen das Abendessen zu machen. Deva kommt, um Liebe zu geben. Um sie ihren Körper spüren zu lassen. Manchmal schläft sie auch mit ihnen. Die 49-Jährige ist Sexualbegleiterin für Menschen mit Behinderung.
Sie ist „Sexworkerin“, aber bei ihr gibt’s sexuelle Wunscherfüllung nicht auf Bestellung. „Gebucht wird in der Sexualbegleitung die Zeit, die der Gast und ich gemeinsam verbringen, nicht die Handlung. Es muss sich für beide gut anfühlen. Es passiert, was passiert“, sagt die zierliche Frau, die ihre blonden Haare zu einem wilden Dutt hochgesteckt hat, Brille auf der Nase, der Körper in frecher pinker Lederhose. Sie ist eine Intuitive, die ihren Gefühlen folgt. Eine Frau ohne Berührungsängste. Aber mit Prinzipien. Trocken fügt sie hinzu: „Wenn es herzmäßig nicht funzt, wird daraus auch nichts.“
Darf man das? Etwa mit geistig behinderten Menschen intim werden, die für Außenstehende doch oft wirken wie Kinder. „Wer so denkt, macht genau den Fehler, den die Einrichtungen machen: totschweigen, totreden, überbeschützen. Ich glaube, dass man manche Leute unterschätzt“, sagt Andreas. Auch Deva kennt die Einwände. „Ganz oft kommt es vor, dass Eltern Sexualbegleitung für ihre behinderten erwachsenen Kinder nicht wollen, weil sie sie nicht als Erwachsene sehen. Es ist aber so, dass sie biologisch erwachsen sind: Sie kriegen Hormonschübe und wollen Sex und Liebe erleben.“ Das möchte sie ihnen ermöglichen.
Die Dienste, wie sie Deva und andere Sexualbegleiterinnen anbieten, gab es in den 1970er-Jahren nicht. Damals, als Andreas 20 war – und dann doch ein Mädchen fand, das sich auf ihn einließ. Mit ihr verbrachte er sein erstes Mal. Eine Nicht-Behinderte, er schwer verliebt. Sie erst 15, den Kopf voll von Träumen, Wünschen und Zukunftsvisionen. Bei deren Erfüllung ein behinderter Mensch im Rollstuhl nur störte.
„Ich war extrem eifersüchtig, habe sie eingeengt. Das hat nicht mehr funktioniert“, erzählt Andreas und zuckt mit seiner Nase, um die Brille wieder nach oben zu befördern. Andere würden sie mit der Hand hochschieben; er kann das nicht. Es sind die kleinen Gesten, die man zu lesen lernt. „Dann war die Beziehung vorbei, doch trotzdem war das eine Zeit, in der ich extrem lustvoll war.“ Er versuchte es über Kontaktanzeigen, in besonders mutigen Momenten quatschte er auch mal ein Mädel in der Disco an. „Ich war oft verliebt. Immer unglücklich verliebt“, sagt er. Die Nase zuckt.
Auch Deva Bhusha wuchs „berührungsarm“ auf. Einfach, weil ihre Eltern es nicht besser wussten, sie hatten es nicht so mit Zärtlichkeiten. „Da habe ich eine Parallele zu behinderten Menschen, die viel berührt werden, aber eigentlich nur technisch. Denen die Zärtlichkeit oder die liebevolle Aufmerksamkeit für ihren Körper fehlt“, sagt Deva. Kam daher der Wunsch, Sexualbegleitung anzubieten? „Berührung ist für mich ein Lebensthema. Vor 15 Jahren habe ich mit Tantra begonnen. Eine Freundin fragte mich: Hast du schon einmal etwas von Trebel gehört?“
Trebel, das „Institut zur Selbstbestimmung Behinderter“, bildet Sexualbegleiter aus. Dort lernte Deva etwas Wesentliches: dass sie nicht die Mutter Teresa der Sexualität ist. Auch keine Pflegerin. Sondern eine Frau, die umworben werden will. Um die sich die Gäste durchaus auch bemühen müssen. „Eigentlich alle kommen, weil sie sich nach einer festen Beziehung sehnen. Doch um die zu finden, müssen sie aktiv werden. Ich bin keine Sozialarbeiterin, denn die Leute werden in ihrem Alltag schon von vorne bis hinten bevormundet.“
Das, was sie tut, tut sie nicht aus Mitleid, sie verdient ihr Geld damit. „Die Gäste müssen mich buchen, das ist ein wichtiger Punkt. Es ist eine klare Botschaft: Das ist eine Dienstleistung“, sagt Deva. Der Unterschied zur Regelprostitution: Was nach der Geldübergabe – 90 Euro pro Stunde Sozialtarif bei Nichtverdienst – folgt, ist keine Abfertigung. Die Gäste fühlen sich gesehen, gemeint und auch irgendwie geliebt. Nach einer Stunde mit ihr fühle man sich erfüllt. Nicht leer.
Andreas weiß, was das heißt. Als die Sehnsucht zu groß wurde, entschied auch er sich für professionelle Dienste. „Was ich da erlebt habe, das geht auf keine Kuhhaut.“ Er fragte telefonisch an und schilderte seine Situation – aus Angst vor dem Gesichtsausdruck der Prostituierten, wenn er ihnen ohne Vorwarnung begegnen würde. 70 Prozent lehnten gleich ab. Unter denen, die kamen, zog nicht nur eine Plastikhandschuhe an. „Das war demütigend.“
Doch es gab auch ein paar „schöne Begegnungen“. Die, mit denen er zurechtkam, buchte er öfter. Weil er sich bei ihnen nicht mehr erklären musste. Und trotzdem: Nach so einem Hausbesuch einer Professionellen fühlte sich Andi nur noch einsamer. Nach so einem sexuellen Erlebnis hätte man ja eigentlich auch den Wunsch, „so ein bisschen nach Nähe“, zu kuscheln. Doch dann ist die Zeit abgelaufen.
Klar, auch Deva will Geld verdienen. Vor allem aber ist sie neugierig. „Ich liebe es, andere Körper zu erforschen. In meinem Job darf man nicht vorgefertigt denken – jeder Mensch ist emotional anders, hat seine Geschichte, und jede Behinderung erfordert andere Herangehensweisen.“
Was sie nervt, sind oft die Einrichtungen. Viele verweigern den Sexualbegleiterinnen den Besuch in ihrem Haus. Wenn ein Betreuer offen sei, bereit, sich auf das Thema einzulassen, werde er von oben zurückgepfiffen. „Das ist so verdreht, denn die Bedürfnisse sind ja da“, ihre Stimme wird nicht laut, als sie das sagt. Eher leiser, eindringlich. Verärgert. „Am liebsten wäre denen, das Thema totzuschweigen. Behinderte haben keine Sexualität.“
Andreas, der so oft verliebt war, dachte, er könnte nie wieder etwas für eine Frau empfinden. Jahrzehntelange Enttäuschungen, eigentlich wollte er nicht mehr. Dann las er von Deva. Ihre Homepage machte ihn neugierig. Die Texte über Tantra. Diese ganzheitliche Körpererfahrung, bei der das Sexuelle nicht nur auf eine Zone zentriert wird. „Das kannst du nicht vergleichen mit normaler Prostitution. Bei Deva lege ich mich hin, lasse mich fallen und genieße.“
Auch unter Behinderten finden nicht alle gut, was Deva macht. Sexualbegleitung, da werde der Mensch doch wieder in einen Sondertopf geworfen. Andreas kann das ein Stück weit verstehen. Es gebe Sexualbegleiterinnen, die so tun, als täten sie was Gutes für die armen Behinderten. Aber die, die es machen wie Deva, die seien ein Gewinn. „Die Kritik kommt aus der Ecke derer, die besonders selbstbestimmt sein wollen; aber auch die blenden aus, dass es viele Leute mit Behinderung gibt, die gar nicht wissen, wo sie stehen, die sich selbst und andere erforschen möchten, Beratung brauchen. Da geht es gar nicht so sehr um klassischen Sex.“
Andreas hat viel über sich erfahren. Und: Andreas hat die Liebe entdeckt. Das Bett, auf dem Deva sitzt, gehört ihrem „Froschkönig“. Das ist kein Kosename für einen Gast, sondern für ihren Freund. Für Andreas. Aus einer Sexualbegleitung ist Liebe geworden. „Mein Herz ist gefüllt mit ihr“, sagt er und grinst über beide Wangen.
Happy End? Deva ist weiter Sexualbegleiterin. Ob ihn das stört? „Deva hat eine Gabe: Bei Menschen, wo sie ist, ist sie wirklich. Die Begleitung ist ihre Arbeit – ohne sie hätten wir einander nicht kennengelernt. Das ist ein Bestandteil von ihr, einer, den ich sehr liebe.“ Wieder grinst Andreas. Wieder etwas verschämt. „Das klingt jetzt total kitschig“, Pause. „Aber es ist doch so: Wenn es mehr von Menschen wie Deva gäbe, wäre unsere Welt viel friedlicher.“