-Herr Schall, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder aus Chemnitz sehen?
Das ist dramatisch. Und ein Indiz dafür, dass es gerade besonders bei Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken gärt. Eine explosive Lage, auch für die Polizei.
-Die sächsische Polizei hat eingeräumt, am Montagabend nicht mit derart vielen Rechtsextremen gerechnet zu haben. Wie kann das passieren?
Wenn die Veranstalter solcher Kundgebungen ihre Demonstration anmelden, geben sie dabei auch eine geschätzte Teilnehmerzahl an. Natürlich verlässt sich die Polizei nicht nur auf diese Angaben. Besonders bei Rechts- und Linksextremen fragt man auch den Verfassungsschutz an, beobachtet die Kanäle der entsprechenden Szene. Aber klar: Das ist immer ein Stück weit Kaffeesatzleserei. Jetzt in Chemnitz ist die Lage deutlich unterschätzt worden.
-Von wem genau?
Grundsätzlich ist zunächst mal die örtliche Polizeidienststelle zuständig. Bei einem Aufmarsch dieser Größenordnung wandert das aber natürlich ein paar Ebenen nach oben bis ins Polizeipräsidium – etwa wenn Bereitschaftspolizei und Einsatzzüge aus anderen Bundesländern zusätzlich angefordert wurden. Eine wichtige Frage ist nämlich auch, ob man noch Einsatzkräfte in der Hinterhand hat, falls die Situation eskaliert.
-Sollte es zu neuen Ausschreitungen in Chemnitz kommen, wäre also auch bayerische Unterstützung denkbar?
Prinzipiell ja, und zwar in relativ kurzer Zeit. In Bayern haben wir ein, zwei Einsatzzüge als eine Art Landes-Reserve. Im Einzelfall hängt das davon ab, ob die Kollegen Kapazitäten haben. Letztlich entscheiden die beteiligten Verbände und das bayerische Innenministerium.
-Bei den eskalierenden G20-Protesten in Hamburg 2017 hat die Einsatzleitung sehr schnell sehr viele Polizisten mobilisiert. In Chemnitz nicht. Warum?
Da sind wir wieder bei der Erkenntnislage der Einsatzleitung vor Ort. Das will ich aus der Distanz nicht beurteilen.
-Was passiert, wenn auf einer Kundgebung wie in Chemnitz Neonazis offen den Hitlergruß zeigen?
Da handelt es sich um das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Eine Straftat. Deshalb müsste auch immer eingeschritten werden. Nur: Das hängt davon ab, ob die Polizisten in der Situation stark genug sind.
-In Chemnitz waren sie es offenkundig nicht.
Es gibt auch noch andere Möglichkeiten. Manchmal setzt man Kollegen in Zivil ein, die diese Menschen dann observieren und warten, bis die Situation übersichtlicher ist. Dann kann man immer noch die Personalien aufnehmen oder jemanden festnehmen. Und natürlich wird auch versucht, solche Straftaten mit Videoaufnahmen zu dokumentieren.
-Wie waren Ihre eigenen Einsätze bei Demos von Rechtsextremen?
Damit hatte ich gelegentlich auch zu tun, in der Hochzeit der Republikaner oder noch früher mit der Wehrsportgruppe Hoffmann. Bei solchen Aufmärschen gibt es meist auch linke Gegendemonstrationen. Zum Glück sind diese heiklen Einsätze in meinem Fall im Großen und Ganzen friedlich verlaufen.
-Werden junge Polizisten auf solche Einsätze besonders vorbereitet?
Nein. Das lernt man meistens während der Zeit bei einer Einsatz-Hundertschaft.
-Also sind diese jungen und unerfahrenen Kollegen die Leidtragenden, wenn die Einsatzleitung die Lage falsch einschätzt?
Darunter leiden alle, auch die erfahrenen Kollegen. Wenn man deutlich in der Minderzahl ist und die Lage eskaliert, dann ist das kein schönes Gefühl. Umso wichtiger ist die Nachbereitung und die Frage: Was könnte man künftig besser machen?
Interview: Maximilian Heim