Bad Tölz/Schliersee – Klaus Wiedenbauer, 65, ist am Strand von Torbole und atmet. Er spürt den Wind, riecht die Olivenbäume und beobachtet die Wellen. Die Autofahrer, die an ihm vorbeifahren, spüren nichts, riechen nichts und vom Wasser merken sie erst recht nichts. Sie sehen nur Wolken, Regen und dunklen Asphalt – und wundern sich ein bisserl, wie man bei so einem Sauwetter draußen sitzen kann.
Klaus Wiedenbauer lächelt. Neben seinem Liegestuhl, den er vor seinem Surf- und Snowboardgeschäft an der Sachsenkamerstraße in Bad Tölz aufgestellt hat, flattert ein Windsurfsegel. Fest am Boden montiert. Diejenigen, die ihn kennen, wundern sich nicht. Sie wissen, dass er an zwei Orten gleichzeitig sein kann. In Bad Tölz und am Gardasee. Wenn er Ruhe braucht, geht er gedanklich auf Reisen.
Immer wieder zieht es den Thanninger über den Brenner. Nach Torbole, Limone. Dort, wo der Wind am besten ist. Anfang der 1980er-Jahre entdeckte er das Windsurfen für sich. „Die Mutter aller Funsportarten“, sagt Wiedenbauer. In der damaligen Zeit der absolute Trend. Die Bretter waren schwer, der Gabelbaum, an dem man sich am Segel festhielt, aus Holz. „Nach einer Stunde waren die Hände offen.“ Wiedenbauer surfte trotzdem weiter. Einmal im Monat flog er auf die Kanaren. Manchmal nach Hawaii. Meistens aber düste er mit seinem Motorrad über die Europabrücke an den Gardasee. „Locker 20 Mal im Jahr“ – meistens übers Wochenende.
Drei Stunden später saß er am Lago di Garda. In der Stadt nennt man ihn auch Lago di Monaco – der südlichste See Münchens. Der See der Oberbayern. Nur knapp vier Stunden dauert die Fahrt von Garmisch-Partenkirchen. Vor 200 Jahren gehörte die Nordspitze des Gardasees sogar zu Bayern. An manchen Tagen ist es fast, als hätte sich das nicht geändert. Wenn in der Hochsaison mehr Touristen als Italiener an der Promenade herumflanieren. In dem ein oder anderen Lokal gibt es sogar Pommes mit Hendl.
Manchmal ist vielleicht zu viel Bayern am Gardasee. „Ach geh“, sagt Klaus Wiedenbauer und winkt ab. Er kennt sie, die richtig guten Lokale, die Geheimtipps. Wenn er mit seinen Spezln in Torbole ankam, hielten sie an der Abzweigung in Richtung Riva. Die Verkäuferin in dem kleinen Lebensmittelladen blickte nur kurz auf und wusste Bescheid. Sie zog sich die Schürze an und schnitt eine Stunde Parmaschinken. Hauchdünn. 500 Gramm. „Was besseres gibt’s nicht.“ Mit Weißbrot und salziger Butter ließen es sich die Spezln an der Schweinebucht schmecken. Oft blieben sie dort über Nacht.
Klaus Wiedenbauer sportelt noch heute. Er surft nicht nur, sondern fährt Rennrad und Snowbard. Außerdem gibt er viermal die Woche Taekwondo-Unterricht in München. Kampfsport macht er seit über einem halben Jahrhundert. Durch ihn hat er es gelernt, das Reisen in Gedanken. „Irgendwann verändert sich das Bewusstsein.“
Manchmal, wenn Markus Sachs, 62, von seinem Café Milchhäusl in Schliersee auf die dunklen Wolken schaut, die sich über der Brecherspitze zusammenbrauen, träumt auch er vom Gardasee. Früher, mit 30, packte er dann einfach sein Radl ins Auto und fuhr dem Wetter davon. Oft nur für einen Tag. Einen Espresso am Brenner später, nach zwei Stunden und 50 Minuten, saß er in der Bar Centrale in Torbole, trank Cappuccino, aß ein Cornetto. „Das war damals noch was besonderes“ sagt er. „Heute kriegst ja alles überall.“
Mit seinen Spezln fuhr Markus Sachs auch mitten in der Nacht an den Gardasee. „Um ein Uhr ist uns das beim Weggehen eingefallen“, sagt er und lacht. Für einen Cappuccino schnell nach Torbole – das war keine Seltenheit. „Fahr ma Gardasee?“, fragte einer. Und schon ging’s über die Bundesstraße den Brenner rauf – um Maut zu sparen. Auch Jeans haben die Freunde gerne unten gekauft. Nur 40 000 Lire – zirka 40 Mark – kostete eine Replay. Halb so viel wie daheim. „Dann hatten wir den Sprit schon wieder drin.“
Als Markus Sachs an den Gardasee fuhr, ging die Ära der Surfer langsam zu Ende. Es folgte die der Mountainbiker. Auch Markus Sachs bezwang immer öfter die Berge mit seinem Radl statt den Wind mit seinem Segel. Eine Wanderkarte hatte er immer dabei. Bikerouten gab es damals noch keine. Der „Moser“, der erste bekanntere Bikeführer, kam erst Jahre später heraus. Den Tremalzo – den „Kultberg der Biker“ – fuhr er zuerst mit seinem Auto hoch, um sich einen Überblick zu verschaffen, bevor er den Aufstieg mit dem Mountainbike machte. „Das war damals schon ein Abenteuer.“ Die Wanderkarten halfen Markus Sachs auch beim Autofahren – bei Stau vor der Mautstation. „Ein paar Schleichwege gingen immer.“
Wenn er an die Zeit zurückdenkt, lächelt er. „Schee war des schon, anders halt als heute.“ In der Ferienzeit würde er jetzt nicht mehr an den Gardasee fahren. „Alleine der Verkehr ist der Wahnsinn“. Ihn überrascht es nicht, dass in Sirmione am südlichen Ufer wegen der vielen Touristen sogar Fahrverbote verhängt wurden. Unter drei Stunden schafft es auch Markus Sachs nicht mehr nach Torbole. Zirka viermal im Jahr zieht es ihn aber dennoch an den Lago. „Am scheensten ist es Mitte September.“
Auch Klaus Wiedenbauer kehrt einmal im Jahr zurück an den See. Wenn er sein Auto geparkt hat, geht es runter an den Strand. Dann setzt er sich auf einen Felsen. Spürt den Wind. Beobachtet die Wellen. Riecht die Olivenbäume. Und atmet.