Der Sommer der Liebe Dahoam

Oberbayerns wilde 68er

von Redaktion

von Magdalena Kratzer

Miesbach – Es war beim Isarflimmern, bei der dritten Flasche Augustiner und der zweiten Roth-Händle, als Russland Prag besetzte. Damals, im Spätsommer 1968. Manfred Zick, 21, drehte sein Kofferradio auf. Er und seine drei Spezl, die Mitglieder der Band Milestones, die sich an fast jedem Sommertag nachmittags an der Isar nahe dem Georgenstein trafen, rückten zusammen. Sie konnten nicht glauben, was die bröckelige Stimme des amerikanischen Senders AFN verkündete. Soldaten, Gewalt, Unterdrückung. Nach der Nachricht: Stille. Weitere Flaschen Bier, viel mehr Zigaretten. Und Diskussionen bis zum Morgen.

Manfred Zick ist heute 71, pensionierter Lehrer, und an diesen Abend erinnert er sich besonders gut. Als er mit langen Haaren, wildem Vollbart und gegerbter Lederjacke die Welt verändern wollte. Als Che Guevara sein Vorbild war. Der Rock ’n’ Roll seine Lebensphilosophie. „Wir wollten etwas bewegen“, sagt er. So wie viele junge Leute.

1968 erreichten die Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen ihren Höhepunkt. Demos für den Prager Frühling, gegen den Vietnamkrieg, die Ermordung Martin Luther Kings. Auch im konservativen Oberbayern gingen Studenten auf die Straße. Manfred Zick vom Land war dabei. Der Sohn eines Zimmerers und einer Hausfrau aus Deisenhofen im Kreis München.

Sein Studium zum Elektroingenieur hatte er gerade beendet, als im Mai 1968 die Notstandsgesetzgebung, die den Staat in Krisensituationen handlungsfähig machen sollte, vom Bundestag beschlossen wurde. Ein Relikt aus der Weimarer Republik. „Das ging einfach gar nicht.“ Manfred Zick war wütend und setzte sich mit Hunderten Mitstreitern auf die Gleise der Münchner Tram. „Wir waren stinksauer.“ Und enttäuscht.

Der SPD-Vorsitzende und spätere Bundeskanzler Willy Brandt, den die linken Studenten verehrten, machte in der Großen Koalition mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) einen Rückzieher. Das Gesetz kam durch. Da half es auch nichts, dass die Straßenbahn für ein paar Stunden nicht vorwärts kam. „Wichtig war der Protest trotzdem“, sagte Zick Jahrzehnte später zu seinen Schülern an der Fachoberschule Bad Tölz.

Wenn sie es wissen wollten, erzählte er ihnen von den Friedens-Protesten, den Streiks, den legendären Partys und dem Glauben an die Demokratie. „Es war ein absolut freies Leben.“ Eine heiße Zeit. Vieles sieht er heute politisch anders, sagt er. Dem Rock ’n’ Roll ist er aber immer treu geblieben. Als Zither Manä tourte Manfred Zick in den 1980er-Jahren durch ganz Deutschland, spielte Pink Floyd auf der Zither und sang dazu politische Texte. Das macht er heute noch.

Sein langjähriger Spezl Michael Pelzer, 71, Jurist und ehemaliger Bürgermeister von Weyarn im Kreis Miesbach, ist auch ein alter 68er. Bei den Studentenrevolten in München war er mittendrin. Und stach heraus. Statt langer Haare und Parka trug er Sakko, Krawatte und akkuraten Kurzhaarschnitt. Grad mit Fleiß! Ein Revoluzzer war Michael Pelzer schon in seiner Zeit am Miesbacher Gymnasium. Mit 16 brachte er die Schülerzeitung „Der Streber“ – benannt nach dem Gedicht von Erich Kästner – heraus. „Das hat uns erste Schwierigkeiten eingehandelt.“ Er lacht. Es war das Jahr 1965. Aufbegehren gegen Autoritäten, Beatmusik, Freiheit und die Frage nach den Verbrechen, die im Nationalsozialismus geschehen waren, beschäftigten die Jugendlichen. „Es war ein Pulverfass.“

Die „Verkrustung der Zeit“, wie Pelzer sie nennt, könne man heutzutage gar nicht mehr begreifen. Scham, Schuldgefühle, Scheinheiligkeit bestimmten die 1950er- und 60er-Jahre. „Die Eltern erlitten im Krieg Traumata, die wir uns nicht vorstellen können.“ Der Geschichtsunterricht endete mit Otto von Bismarck. Der Nationalsozialismus: totgeschwiegen. Die Eltern klammerten sich an den wirtschaftlichen Aufschwung. „Ihre Sprachlosigkeit überdeckten sie mit dem Materiellen.“ Die Jugend wollte reden, wollte wissen, was mit den Juden passiert ist. Doch es kam nichts. Keine Reaktion darauf, dass immer noch Nazis in der Regierung, in den Gerichten, in den Schulen saßen. „Irgendwann fing man dann an, a bisserl grober zu werden“, sagt Pelzer nachdenklich. Manche wurden richtig grob.

Die Kaufhaus-Brandstiftungen in Berlin, die unter anderem von Andreas Baader und Gudrun Ensslin – den späteren Begründern der Terrorgruppe RAF – gelegt wurden, lehnte er schon damals ab. Anstatt die große Revolution zu planen, engagierte er sich in seinem Dorf. Noch während des Studiums trat er der SPD in Weyarn bei, zwei Jahre später war er Gemeinderat, mit 41 Bürgermeister.

Im Sommer 1968 demonstrierte auch er in der Stadt und verteilte Flugblätter, die er mit der Schreibmaschine tippte. „Man fühlte sich schon sehr revolutionär.“ Michael Pelzer schmunzelt. Bei den großen Versammlungen im Audimax der LMU diskutierte er mit. Als Fakultätssprecher legte er sich mit Professoren an. Einmal hebelten er und seine Kommilitonen die Türen des Rektoratszimmers auf. „Das war vielleicht das Extremste, was wir je angestellt haben.“ Die Professoren hatten sich im Zimmer eingesperrt. „Wir fanden das dämlich. Diskutieren war ja alles, was wir wollten.“ Plötzlich standen die Studenten in einem leeren Raum. Die Professoren waren durch den Hinterausgang geflüchtet. „Dann haben wir halt ihre Zigarren aufgeraucht.“

Später, nach dem Referendariat, bekam Michael Pelzer einen Posten als Regierungsrat der bayerischen Finanzverwaltung. Beamter. Im Sommer 1968 hätte er sich das nie vorstellen können. Im Nachhinein wunderte es ihn, dass er überhaupt in den Staatsdienst kam.

Der Radikalenerlass, der 1972 in Kraft trat, hätte das verhindern können. Beamtenanwärter wurden damals mit einem Berufsverbot belegt, sobald es Hinweise darauf gab, dass sie den Staat unterliefen. Da reichte es schon, bei einer Demonstration dabei gewesen zu sein. „Habt’s ihr Akten über uns angelegt?“, fragte er einen ehemaligen Kanzler der Universität. „Selbstverständlich.“ Die Akten nahm der aber mit zu sich nach Hause. „Weißt, ich hab’ einen großen Kamin zu Hause“, sagte er zu Pelzer. Bei einer Lehramtsstudentin aus Passau sah es anders aus. Die Lehramtsbefähigung wurde ihr verweigert, weil sie einmal einen „Stopp Strauß“-Button trug. „So war das damals.“

Ein Jahr vor Michael Pelzer machte Hermann Kraus 1966 in Miesbach Abitur. Der pensionierte Ingenieur ist stellvertretender Vorsitzender der Miesbacher SPD. Nach der Schule spielte er mit dem Gedanken, Theologie zu studieren. „Das Zweite Vatikanischen Konzil fand ich zukunftsweisend“, sagt er. Dann überwog die Begeisterung für die Technik. Statt ins Priesterseminar ging er lieber an die TU. Daheim in Miesbach leitete er eine Jugendgruppe ehemaliger Ministranten. Brav waren die nicht. Sondern langhaarig und ziemlich kritisch. So wie Hermann Kraus. „Mei, die Langhaaraden scho wieder“, haben die Einheimischen gesagt. Auch „Gammler“ hat man sie geheißen.

In einem alten Kellergewölbe in Miesbach traf sich die Gruppe regelmäßig. Zum Feiern und Diskutieren. Politik, Psychologie und Sexualität waren die Themen. Rockmusik sowieso. Psychedelische Kunstwerke schmücken noch heute das Miesbacher Kellergewölbe. In München war Hermann Kraus bei „Sit-ins“ dabei, die an der TU stattfanden. Im Hörsaal 2300. „Den gibt es heute noch.“

Schaut er 50 Jahre zurück, wird Kraus nachdenklich. „Die Zeit hat mich sehr geprägt“, sagt er. Noch Jahre später, als er Karriere machte und eine Firma gegründet hatte, beriet er Kriegsdienstverweigerer in Miesbach. Politisches Engagement vermisst er heute bei der Jugend. Er kann es aber auch verstehen. Hoffnung geben ihm die jungen Menschen, die dieses Jahr in Bayern auf die Straße gingen und gegen das Polizeiaufgabengesetz demonstrierten. Auch Hermann Kraus’ Sohn war dabei – samt Enkel.

Michael Pelzer wundert es nicht, dass viele junge Leute von der Politik nichts wissen wollen. Trotzden spricht er immer wieder junge Leute an, ob sie es nicht in der Kommunalpolitik probieren wollen. „Die Oidn sind schon ausgebacken“, sagt er.

„Vielleicht kimts amoi wieder“, meint Manfred Zick, der Zither Manä. Noch heute treffen er und seine Bandkollegen sich an der Isar. Trinken ein Bier, diskutieren, machen Musik. Beim Blick auf das Wasser scheint es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Das Flimmern der Isar ist das Gleiche geblieben. Schimmernd, frei, voller Versprechen. Wie damals, im Spätsommer 1968.

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