Arm unter den Reichen am Tegernsee

von Redaktion

Der Tegernsee im Kreis Miesbach gilt als Paradies für reiche Rentner. Wie aber geht es den Senioren, denen das Geld nicht mal für das Alltägliche reicht am See der Wohlhabenden? Ein Ortstermin.

VON ANJA REITER

Rottach-Egern – Kartoffeln schälen, schnippeln, kochen. Erika F.* kann jeden dieser Handgriffe im Schlaf ausführen. Kein Wunder, im Winter isst die 85-Jährige oft wochenlang nichts anderes als Kartoffelsuppe. Denn Kartoffeln sind billig, und im Winter wird das Geld knapp – für sie und ihre Katze. Wenn der Boden gefroren sei, finde die Katze schließlich keine Mäuse. Dann muss Erika F. von ihrem knappen Haushaltsgeld auch noch Katzenfutter für ihren geliebten Stubentiger kaufen.

Erika F. wohnt am Rand von Rottach-Egern am Tegernsee im Kreis Miesbach. Sie ist dort zu Hause, wo andere Urlaub machen. Der Wallberg, der glitzernder See und die luxuriösen Flaniermeilen liegen vor ihrer Haustüre. Von alldem hat die Seniorin jedoch nichts. Von ihrem kleinen Einkommen kann sie sich die Klamotten in den teuren Boutiquen ohnehin nicht leisten, nicht einmal ein Mittagessen in einem der heimeligen Gasthöfe ist drin.

Als ihr Sohn starb, übernahm sie sein Erbe – doch das bestand nur aus Schulden. So schlitterte Erika F. in die Grundsicherung – und kam nie wieder heraus. So wie Erika F. geht es vielen Senioren am Tegernsee. Das Tal gilt als Pilgerort für Reiche und Schöne. Doch wer nur wenig Geld hat, leidet unter den steigenden Preisen, die die Reichen mitbringen.

Zementkönige treffen hier auf Oligarchen, Topmanager auf Fußballstars. Ein vorzeigbares Haus kostet gut und gerne zwei Millionen Euro – und die Preise steigen weiter. Fast nirgendwo in der Republik wird pro Quadratmeter mehr Champagner konsumiert. Und auch die Juweliersdichte ist wohl unerreicht im Tal. Unter 10 000 Bayern findet man im Landkreis Miesbach 8,1 Einkommensmillionäre, nur in den Landkreisen Starnberg und München gibt es bayernweit mehr. Im Schnitt haben die Menschen im Landkreis eines der höchsten verfügbaren Einkommen Bayerns. 29 271 Euro pro Jahr hat jeder Einwohner im Schnitt zur Verfügung, umgerechnet 2440 Euro im Monat.

Das sind Zahlen, von denen Irmgard T. nur träumen kann. Die Rente der 66-Jährigen beträgt 810 Euro, mehr als die Hälfte davon geht für ihre ohnehin sehr günstige Wohnung drauf. „Ohne Nebenjob geht hier nichts“, sagt sie. Deshalb arbeitet sie drei Tage in der Woche auf 300-Euro-Basis. Nebenher bügelt Irmgard T. bei Bekannten oder verdient sich ein bisschen was dazu als Komparsin beim Film.

„Ich boxe mich durchs Leben“, sagt die Seniorin und lacht. Körperlich schwere Arbeit könne sie in ihrem Alter freilich nicht mehr leisten. „Ich mache nur noch Sachen, die ich gerne mache“, sagt Irmgard T. Dass es in der Region so viele reiche Leute gebe, habe auch seine guten Seiten: So gebe es immer Möglichkeiten, etwas dazuzuverdienen. Vor ihrem 300-Euro-Job kümmerte sie sich 13 Jahre lang bei „steinreichen Leuten“ um den Haushalt, dreimal in der Woche.

Obwohl das Geld mehr als knapp ist, ist Irmgard T. mit ihrem Leben zufrieden. Sie genießt es, durch ihren Nebenjob viel unter Menschen zu sein. Die imposante Landschaft, den See und das Blaugebirge hinter ihrer Dachgeschosswohnung liebe sie nach wie vor. „Das schöne Umfeld gibt mir Kraft“, sagt sie. Statt sich über die teuren Boutiquen zu ärgern, bestellt sie ihre Klamotten günstig im Internet.

„Das Gefühl von Neid ist mir fremd“, sagt Irmgard T. Nur eines sorgt die 66-Jährige: Was, wenn sie irgendwann nicht mehr arbeiten könne, etwa aus gesundheitlichen Gründen? Oder wenn ihr netter Vermieter doch noch mit den Mieten anziehe? Irmgard T. seufzt. Sie glaubt, dass ihr dann vielleicht nur noch die Flucht aus „dem Paradies“ bliebe.

*alle Namen geändert

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