München – Pardon, aber man muss es wohl so formulieren: Manieren sind wieder geil. Der Trend wendet sich gegen Egoismus, Selbstoptimierung und Beliebigkeit. Das behauptet zumindest Bestseller-Autor Alexander von Schönburg (49) in seinem neuen Buch „Die Kunst des lässigen Anstands“. Als Gegenmittel gegen den Zeitgeist des „Alles ist erlaubt“ plädiert er für Werte und Tugenden, die lange altmodisch erschienen: Höflichkeit, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit oder Treue. Im Interview erklärt der Benimm-Experte, der mit der Queen verwandt und Bruder von Gloria von Thurn und Taxis ist, warum nobles Verhalten das Leben schön macht.
Herr von Schönburg, in Ihrem neuen Buch machen Sie eine neue Sehnsucht nach Werten aus. Gibt es die wirklich oder ist das Ihr eigenes Wunschdenken?
Die allgemeine Beliebigkeit, in der alles erlaubt ist und es keinerlei moralische Standards mehr gibt, geht doch inzwischen jedem halbwegs vernünftigen Menschen auf die Nerven. Wir haben aus lauter Begeisterung für Fortschritt und aus lauter Druck, zeitgemäß zu sein, so ziemlich alles, was einmal galt, aus dem Fenster geschmissen.
Klagen über Werteverfall kannte man bislang nur von Konservativen.
Ich glaube, dass das, was zunächst – angefangen in den 60er-Jahren – zu Recht als Befreiung von Normen und Werten empfunden wurde, so weit getrieben worden ist, dass gar keine Normen mehr gelten, was zu einer Verflachung unserer moralischen und kulturellen Landschaft geführt hat. Und das wird langsam als schmerzlicher Verlust empfunden und zwar weit über das konservative Milieu hinaus.
Zum Beispiel?
Warum sehnen sich denn die Hipster in den Großstädten nach traditionell handwerklich hergestellten Produkten und bestellen ihre Öko-Seifen bei irgendwelchen Klöstern, deren Adressen sie eifersüchtig hüten, und meiden Industrieware? Die Sehnsucht nach dem Guten von gestern ist mit Händen zu greifen.
Welche Unart ist Ihnen zuletzt auf die Nerven gegangen?
Mich stört, dass jeder nur noch seine eigene Bequemlichkeit im Sinn hat. Das sieht man zum Beispiel daran, wie die Leute sich kleiden. Erwachsene Leute laufen wie Kinder rum, T-Shirts, Baseball-Kappen, Kopfhörer im Ohr. Klar ist das nur eine Äußerlichkeit, aber ich halte das für ein Symptom für etwas ziemlich Verstörendes: die komplette Infantilisierung unserer Gesellschaft. Das moderne Credo ist, dass alles bequem sein muss. Von den Klamotten übers Essen, das man kaum noch kauen muss und im Gehen konsumiert wird, über das Einkaufen, für das heute ein Wischen über das Smartphone genügt und dann alles nach Hause geliefert wird bis hin zu Ehe und Beziehungen. Und dann wundern sich die Leute, dass sie plötzlich eine Leere empfinden.
War denn früher wirklich alles besser? Die Älteren stöhnen schließlich auch über „den Muff der 50er-Jahre“.
Niemand will zurück in die Bigotterie vergangener Zeiten. Meine Tochter läuft nicht mit geflochtenen Zöpfen herum und meine Jungs nicht mit artigem Mittelscheitel. Aber nicht alles, was früher galt, ist falsch. Es muss uns gelingen, eine Art Synthese zwischen Konservatismus und Fortschrittswahn hinzubekommen. In den letzten 50 Jahren hat sich unser aller Leben grundlegend verändert. Wir sind freier, diverser und offener denn je. Und das ist gut so. Aber die Veränderungen haben eine derart atemberaubende Geschwindigkeit und ein derartiges Ausmaß angenommen, dass das viele zu Recht als beunruhigend empfinden.
Das heißt?
Was mich stört, ist, dass man inzwischen schon als verdächtig gilt, wenn man nicht sämtliche, rasenden Veränderungen enthusiastisch bejubelt. Es genügt nicht mehr, die Veränderungen mitzutragen. Man wird heute genötigt, alles toll zu finden, was neuartig ist.
Zum Beispiel?
Mir ging dieser Hype um Conchita Wurst fürchterlich auf die Nerven. Meinetwegen soll jeder rumlaufen, wie er will, aber ich finde es belästigend, dass wer da nicht laut mitfeiert, gleich als rückständig dasteht.
Ist es nicht furchtbar anstrengend, dauernd auf Anstand zu achten?
Mein Hauptziel ist es, mit einem riesigen Missverständnis aufzuräumen, nämlich, dass alles, was mit Anstand und Tugendhaftigkeit zu tun hat, bitter schmecken muss. Es geht um ein gelungenes Leben, und das funktioniert nicht mit den Rezepten der modernen „Hauptsache-du-hast-Spaß“-Kultur.
50 Jahre nach 1968 fordern Sie eine „neue sexuelle Revolution“. Was war an der letzten falsch?
Wir haben alle Maßstäbe verloren. Die sexuelle Revolution, die Befreiung von Heimlichtuerei und Bigotterie war etwas Großartiges. Aber wir sind inzwischen weit über das Ziel hinausgeschossen. Treu sind wir inzwischen nur noch unserer Smartphone-Marke, das klassische Familienbild gilt als überholt. Treue hat heute den Beigeschmack von treudoof. In Frankreich gibt es schon die Ehe auf Zeit, die schnell und unkompliziert geschlossen und ebenso einfach wieder aufgelöst werden kann. Ich finde das nicht nur unsagbar unromantisch, sondern auch gesellschaftlich fatal. Bindungsunfähige Menschen gehen unverbindliche Zweckgemeinschaft ein und ziehen eine Generation von noch bindungsgestörteren Menschen heran. Das heißt dann Fortschritt. Gute Nacht!
Im Zeitalter von Fremdgeh-Portalen loben Sie die „Theologie des Leibes“, die Einheit von Liebe, Treue und Sex.
Die Kirche neigte schon immer dazu, sich von den Krankheiten der jeweiligen Epoche anstecken zu lassen. Heute leben wir im Selfie-Zeitalter, im Zeitalter der Selbstsucht und Selbstverwirklichung. Aus Angst, nicht mehr relevant zu sein, läuft die Kirche dem Zeitgeist hinterher.
Haben Sie ein Beispiel?
Mir fällt auf Anhieb keine Äußerung des Erzbischofs von München und Freising ein, mit der er jemals öffentlich angeeckt ist. Er will populär sein und von „Spiegel“ und „Süddeutsche“ gefeiert werden. Dabei sollte die Kirche Skandalon sein, also Stolperstein. Dass der Kirche die Relativierung sexueller Moralvorstellungen nicht gutgetan hat, sieht man übrigens sehr deutlich an den Missbrauchsskandalen. Da wurden beide Augen zugedrückt, aus Pragmatismus und falsch verstandener Toleranz.
Ist der Spießer heute der neue Revoluzzer?
Rebellisch ist der, der sich gegen den allgemeinen Konsens stellt. Und da in unserer Gesellschaft Unkonventionalität zur Konvention geworden ist, ist es nun eben rebellisch, sich wieder an ein paar Regeln zu erinnern.
Interview: Franz Rohleder
Das Buch
Alexander von Schönburg, „Die Kunst des lässigen Anstands. 27 altmodische Tugenden für heute“, Piper, 320 Seiten, 20 Euro.